Die verlorene Bibliothek: Thriller
Geschäfte, Marktkarren und Menschen. Doch diese Straße unterschied sich von den anderen in einem wesentlichen Punkt: Als Emily sie hinunterrannte und nach weiteren Gassen Ausschau hielt, die von ihr wegführten, musste sie feststellen, dass da keine mehr kamen. Nicht eine einzige Nebenstraße war zu sehen, nicht eine einzige Einmündung. Es gab keinen Weg mehr hier raus. Links und rechts nur Häuser.
Ich sitze in der Falle.
Verzweifelt suchte Emily nach einer Fluchtmöglichkeit, und tatsächlich entdeckte sie etwas nur ein paar Fuß entfernt auf der rechten Seite: eine offene Doppeltür, die in eine der wenigen Kirchen hier in der Gegend führte, Überreste einer Zeit, als Istanbul noch eine christliche Metropole gewesen war.
Das ist zwar keine Gasse, aber besser als nichts.
Emily lief hinein.
In der Kirche war es dunkel. Nur einige Kerzen brannten in der Ecke, vor denen ein paar alte Frauen beteten. An den Wänden waren romantische Darstellungen des Herrn, der Jungfrau Maria und der Heiligen zu sehen, und der Blick auf den Altar wurde von einer hohen Holzwand voller Bilder versperrt. Armenisch , bemerkte Emily automatisch mit dem Blick einer Historikerin. Armenische Kirchen waren überall auf der Welt gleich.
Zu ihrer großen Erleichterung wurde das Kirchendach von einer Reihe großer Säulen gestützt. In der Dunkelheit boten sie Emily das, was sie jetzt am meisten brauchte: eine Versteckmöglichkeit. Emily schnappte sich eine Kerze aus einem Karton am Eingang für den Fall, dass sie fromm aussehen und bei den betenden Frauen untertauchen musste; dann huschte sie zu der letzten Säule und versteckte sich dahinter.
Sie drückte sich an den kalten Stein und wischte sich verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihr schweres Atmen hallte schier unglaublich laut von den Wänden wider.
Beruhige dich. Atme tief durch. Schön langsam. Sie dürfen dich nicht hören. Sie dürfen dich nicht sehen.
Emily kniff die Augen zu und konzentrierte sich darauf, so leise wie möglich zu sein. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie solche Angst gehabt wie in den letzten paar Minuten, und ihr Körper wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Voller Inbrunst betete sie, dass sie es in die Kirche geschafft hatte, bevor die beiden Männer um die Ecke gebogen waren.
Emily hegte keinerlei Zweifel mehr: nicht, was die Bibliothek betraf, und nicht in Bezug auf die Gesellschaft und den Rat. Arno hatte sie zu etwas Realem geführt; es war fast in Reichweite. Doch der Preis dieser Realität war ein Wissen, das sie an Ereignisse band, über die sie keine Kontrolle hatte. Wollten diese Männer sie wegen ihrer Verbindung zur Bibliothek töten oder weil sie die Liste mit den Namen der Verschwörer in den USA besaß?
Emily wartete darauf, dass ihr Puls sich wieder einigermaßen normalisierte. Mehrere Minuten lang war es in der Kirche vollkommen still. Niemand kam herein.
Langsam und leise lugte Emily hinter der Säule hervor. Die Kirche war leer. Die alten Frauen waren gegangen, und die beiden Männer waren ihr nicht gefolgt.
Emily wartete noch ein paar Minuten, um ihren Verfolgern Zeit zu geben, sich auf der Suche nach ihr noch weiter von ihr zu entfernen. Erst als der Kirchendiener erschien, um die Tür für die Nacht zu schließen, trat Emily hinter ihrer Säule hervor und ging zum Ausgang.
Bevor sie die Kirche endgültig verließ, spähte sie noch einmal auf die Straße hinaus. Von ihren Verfolgern war nichts zu sehen. Emily ging los, und ein paar Minuten später fand sie eine Gasse, die wieder den Hügel hinunterführte.
KAPITEL ACHTUNDACHTZIG
21:10 U HR
Wieder zurück im Herzen des Marktviertels setzte Emily ihren Weg durch so viele Nebenstraßen und Gassen fort, wie sie finden konnte. Nach und nach arbeitete sie sich so aus den belebten Gegenden in ein weniger bevölkertes Netz von Straßen am Rand des Viertels vor. Sie war vollkommen durchgeschwitzt, und das nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Angst. Zwar hatte sie ihre beiden Verfolger seit der Kirche nicht mehr gesehen, aber sie machte sich auch keine Illusionen. Sie war noch lange nicht in Sicherheit. Sie musste raus aus Istanbul, und zwar schnell.
Da sie nach wie vor ständig die Richtung wechselte und sich an möglichst leere Nebenstraßen hielt, kam sie nur langsam in Richtung Stadtzentrum voran, von wo eine große Ausfallstraße sie zum Flughafen und dann hinaus aus dem Land führen würde. Diese Verzögerung hatte jedoch auch einen Vorteil: Je mehr
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