Die verlorene Bibliothek: Thriller
Einfluss, die er zum ersten Mal im Arbeitszimmer seines Vaters kennengelernt hatte, würden ungeahnte Höhen erreichen.
Westerberg wartete, bis die Tür sich vollständig geöffnet hatte. Es war so weit. Er atmete tief durch, duckte sich und betrat das Gewölbe der Bibliothek.
Rasch gesellten sich die Taschenlampen der Männer zu seiner, und als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, verschlug es ihm den Atem.
Tief unter der uralten Stadt erstreckten sich Regale, so weit das Auge sehen konnte. Sie reichten vom Boden bis unter die Decke, und zwischen ihnen standen lange Tische und Katalogschränke. Der Anblick war schier atemberaubend schön, die Dimensionen gigantisch. Hier war Raum für Hunderttausende, ja Millionen Bücher.
Doch das war es nicht, was Ewan Westerberg die Luft geraubt hatte. Es war die Tatsache, dass jedes einzelne dieser Regale vollkommen leer war.
KAPITEL EINHUNDERTZWEI
Z UR GLEICHEN Z EIT IN A LEXANDRIA , Ä GYPTEN – 10:15 U HR (8:15 U HR GMT )
Das Päckchen war winzig und dünn. Als Emily die Kordel löste und das Papier wegriss, fragte sie sich, was wohl drin sein könnte. Konnte etwas derart Kleines wirklich der Bibliothek würdig sein?
Doch was sie unter dem Papier fand, machte die Frage obsolet. Emily versuchte, ihre Überraschung zu verbergen. Sie hielt eine kleine Plastikhülle in der Hand, und darin lag eine silberne DVD.
Sie drehte sich wieder zu Athanasius um.
»Die Bibliothek mag ja alt sein, Dr. Wess«, sagte der Sterbende, »aber … aber sie hat sich stets … erneuert … und sich das Neue zu Nutze gemacht. Wir leiten unser Material auf Datenträgern weiter, nicht mehr in Form von … Büchern und Manuskripten. Die Bibliothek von Alexandria ist kein … kein Bücherlager mehr. Sie ist … ein Netzwerk, Dr. Wess.«
Und wieder änderte sich das historische Bild, das Emily von der Bibliothek hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Ein Netzwerk?« Sie starrte den Ägypter an und drehte die DVD in den Händen. »Sie meinen, sie ist online? Im Internet? Dem Web?«
»So ähnlich«, antwortete Athanasius. Er bekam immer schlechter Luft, doch ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Allerdings wäre das eigentliche Internet natürlich viel zu riskant … zu öffentlich, zu verwundbar. Unsere Version ist … sagen wir … ein wenig sicherer. Ein wenig … geschützter.«
Er hustete erneut, und diesmal floss das Blut bereits aus seinem Mund, und Athanasius brach unter Krämpfen zusammen. Emily warf die DVD beiseite, beugte sich vor und nahm den Mann in die Arme. Sie hatte noch nie einen Menschen sterben sehen, und nun empfand sie das übermächtige Verlangen, diesem guten Mann in den letzten Augenblicken seines Lebens Trost zu spenden.
»Ist schon okay, Athanasius«, flüsterte sie ihm zu, während der Körper des Mannes immer schlaffer wurde. »Sie haben mir gegeben, was ich wissen musste. Das haben Sie gut gemacht.«
Mit letzter Kraft hob Athanasius noch einmal den Kopf, packte Emily an der Schulter und hielt ihr den Mund ans Ohr.
»Dr. Wess … haben Sie wirklich geglaubt, dass wir immer noch Holzregale und Katalogschränke benutzen würden? Selbst diese große Stadt konnte … konnte die Bibliothek schon vor zweitausend Jahren nicht beherbergen … Glauben Sie wirklich, dass … dass das heute noch möglich wäre?« Er schaute Emily so lange wie möglich in die Augen, als wollte er sie zwingen zu verstehen. Und diese Augen, die Augen der neuen Bewahrerin, waren das Letzte, was Athanasius in diesem Leben sah.
KAPITEL EINHUNDERTDREI
O VAL O FFICE , W ASHINGTON D . C . – 8:30 U HR EST (13:30 U HR GMT )
Der Präsident der Vereinigten Staaten schaute über seinen Schreibtisch hinweg auf die Männer, die im Oval Office vor ihm standen. Die Ereignisse der vergangenen drei Tage waren vollkommen unerwartet gewesen. Sie hatten den Präsidenten mit ihrer Wucht überrascht und schlussendlich zu dieser Situation geführt. Drei der mächtigsten Männer in Washington – der Verteidigungsminister, der höchste General und der Direktor des Secret Service – standen gemeinsam mit seinem eigenen Vizepräsidenten vor ihm. Doch sie waren weder gekommen, um ihm einen Weg aus dieser Katastrophe zu weisen, noch wollten sie aufdecken, dass das alles ein großer Schwindel war. Nein, sie waren gekommen, um ihm zu sagen, dass die Ereignisse der letzten Tage der Anfang vom Ende gewesen waren und dass das Ende selbst morgen kommen würde. Morgen: Offenbar würde das
Weitere Kostenlose Bücher