Die verlorene Bibliothek: Thriller
einer halben Million Schriftrollen rasch übertroffen, und die Bibliothek wurde so gewaltig, ihr Einfluss so groß, dass schon bald in anderen Machtzentren ähnliche Institutionen eingerichtet wurden. Davon war die Bibliothek von Pergamon die größte, und sie hätte die Bedeutung von Alexandria sogar übertreffen können, wäre sie Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. nicht von Marc Anton geplündert worden, der zweihunderttausend Schriftrollen aus Pergamon als Hochzeitsgeschenk an Kleopatra übergab, einer Nachfahrin des ersten Ptolemäus. Hollywood, so erinnerte sich Emily, war allerdings mehr von der zwielichtigen Liebesaffäre an sich fasziniert gewesen als von dem Geschenk der Bibliothek.
Nun benötigte man für die Sammlung in Alexandria mehrere Gebäude, spezielle Lagerhäuser und Gewölbe. Der Ethos der Institution verlangte überdies die Konstruktion Dutzender Lesesäle, Vorlesungsräume, Scriptorien und Verwaltungsgebäude. Gerüchten zufolge, die durchaus wahr sein konnten, enthielt die Sammlung zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Million Schriftrollen und Kodizes. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen.
Und dann, irgendwann im 6. Jahrhundert n. Chr. war das alles einfach verschwunden, und kein Historiker hatte je dieses Rätsel lösen können.
Natürlich gab es unzählige Theorien darüber; das wusste Emily. Doch es waren eben nur Theorien. Spekulationen. Das Einzige, was man mit Sicherheit wusste, war, dass die größte Sammlung menschlichen Wissens, die es je gegeben hatte, plötzlich nicht mehr existierte. All das Wissen und all die Macht, die es begründete, waren verloren. Die Bibliothek war weg.
Oder? Die Frage, über die Emily vor heute Morgen nie ernsthaft nachgedacht hatte, war plötzlich die einzige, die noch zählte, und Emily schlug das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Falls Holmstrand die Wahrheit gesagt hatte, dann waren die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, geradezu unvorstellbar. Wenn die Bibliothek noch existierte, dann würde ihre Entdeckung die Geschichte der Welt für immer verändern.
DONNERSTAG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
F LUGHAFEN H EATHROW , L ONDON – 11:15 GMT
Fünfzehn Minuten bevor der American Airlines Flug 98 am Terminal 3 ankam, setzten die Räder eines wesentlich kleineren Flugzeuges auf der Bahn auf: ein Unikat, eine ganz in Weiß lackierte Gulfstream 550 ohne Kennzeichen abgesehen von der Flugzeugnummer.
Jason schaute leidenschaftslos aus einem der kleinen Fenster der Maschine. Die Inneneinrichtung stand in krassem Gegensatz zu dem schlichten Äußeren. Die dicken Teppiche und Ledersitze waren in Beige gehalten, und Walnussholz sorgte für die nötigen Akzente. Auf einem kleinen Tisch, der ebenfalls aus Walnussholz bestand, stand ein Kristallbecher mit dem Rest von Jasons Drink, und daneben lag eine Aktenmappe mit seinen Instruktionen und Notizen …
… und auch qualitativ hochwertige Fotokopien der drei Buchseiten, die ihn hergeführt hatten. Jason hatte diese Seiten zuerst als Aschehäuflein im Büro des Bewahrers gesehen. Später hatte er sie dann auf Hochglanzpapier in einem anderen Exemplar des Buches wiedergefunden, aus dem sie herausgerissen worden waren, und jetzt hatte sich ihm ihr Inhalt förmlich eingebrannt. Den ganzen langen Flug über hatte er sich die Einzelheiten eingeprägt.
Es war nicht ungewöhnlich, dass sein Job ihn über den Atlantik führte, und wenn, dann verlief das auch meist so geheim wie jetzt. Vor sieben Jahren hatte Jason den Titel ›Freund‹ verliehen bekommen, und seitdem war nicht ein Tag vergangen, an dem er nicht in den Schatten hatte arbeiten müssen. Dank seiner Effizienz und Gefühllosigkeit war er in den Folgejahren rasch im Rang aufgestiegen. Es gab viel zu tun, und Jason war stets der Beste für den Job. Er hatte nie danach gestrebt, die großen Entscheidungen zu treffen; er hatte nie Macht oder Autorität haben wollen – jedenfalls nicht im traditionellen Sinne. Seine Macht war bodenständiger. Sie lag in der Ernsthaftigkeit begründet, mit der er seine Befehle ausführte, gnadenlos und ohne Fragen zu stellen.
Jason sah die Lichter des Flughafens vor dem Fenster vorbeiziehen, während der Jet auf ein kleines Privatterminal zurollte. Er war hier, weil er sich das Vertrauen des obersten Ratsmitglieds gesichert und den Posten eines Chefassistenten erworben hatte. Die Verantwortung, die der Sekretär ihm heute übertragen hatte, war riesig. Sie hatten ihr ultimatives Ziel, den Grund ihrer Existenz, keineswegs aus
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