Die verlorene Bibliothek: Thriller
Dieser Spruch hatte Emily derart beeindruckt, dass sie ihn im nächsten Jahr in ihren Lehrplan geschrieben hatte. Ein großer Geist musste nicht nur geschätzt, sondern auch benutzt werden.
Emilys Erinnerungen an Holmstand kulminierten in einem Austausch zum Thema Technologie. Es war nur eine flüchtige Erinnerung, die aber trotzdem bei ihr haften geblieben war. Vor ein paar Monaten hatten sie und Arno parallel etwas im elektronischen Katalog der Carleton College’s Guild Library gesucht. Ein bebrillter, weißhaariger alter Professor im Tweedanzug wirkte an sich schon fehl am Platze hier, doch Arno an einem Computer war noch einmal etwas vollkommen anderes. Der alte Mann wirkte völlig verwirrt von all der Technik, und es sah aus, als würde jeder Tastendruck diese Verwirrung noch vergrößern; trotzdem durchforstete er das System mit bemerkenswerter Schnelligkeit. Das war wieder so ein seltsames Paradox bei diesem Mann.
Er drehte sich zu Emily um – es war eine ihrer seltenen persönlichen Begegnungen gewesen – und rief: »Diese Kataloge sind einfach erstaunlich, wissen Sie?«
Emily, die viel zu erschrocken war, um eine vernünftige Antwort darauf zu geben, nickte nur.
»Ist Ihnen je aufgefallen«, fuhr Arno fort, »wie viele Universitäten auf der Welt die gleiche archaische Software verwenden? Zwar gibt es Versionsunterschiede, aber im Kern ist es stets dasselbe. Ich habe diese verrückten Geräte schon in Oxford benutzt, in Ägypten und jetzt in Minnesota, und nicht ein einziges Mal haben die Dinger so funktioniert, wie sie funktionieren sollen. Es ist dasselbe System, Emily, überall.«
Emily erinnerte sich daran, schüchtern gegrinst zu haben. Mal ganz abgesehen von seinem Ärger über die Technik, der alte Professor hatte ihren Namen gekannt! Eine Ehre, die sie kaum hatte fassen können.
Doch das war das einzige private Gespräch gewesen, das sie je geführt hatten, und das machte Holmstrands Briefe nur noch mysteriöser. Warum hatte er angesichts seines Todes ausgerechnet Emily kontaktiert? Wenn er wirklich die Bibliothek von Alexandria entdeckt hatte, einen der größten verlorenen Schätze der Antike, warum hatte Arno dieses Wissen dann ausgerechnet mit einer so jungen Kollegin wie ihr geteilt? Und warum der vorsichtige Tonfall seiner Briefe?
Emily wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Wagen über eine Bodenschwelle rumpelte. Sie beschloss, Aileen nichts von den Briefen zu erzählen. Wenn Arno Aileen so nahegestanden und gewollt hätte, dass sie davon wusste, dann hätte er ihr selbst davon erzählt. Emily wollte sein Vertrauen nicht enttäuschen.
Nach einiger Zeit drehte Aileen sich wieder zu Emily um. »Geht’s nach Hause?«
»Wie bitte?«
»Ihr Flug heute. Fliegen Sie nach Hause? Um die Feiertage mit Ihrer Familie zu verbringen?«
»Nicht wirklich«, antwortete Emily. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Dann wollen Sie also allein sein, um ein wenig Ruhe zu bekommen, ja?«
Emily spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte, als ihr Blick zu der Jackentasche mit Arnos Briefen wanderte. Sie mochte ja vielleicht alleine reisen, doch sie bezweifelte, dass sie Ruhe haben würde.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
D ER H AFEN VON S HIPU , AU ß ERHALB VON N INGBO , C HINA
Einfaches braunes Papier war um das Paket gewickelt, gesichert mit einer dünnen schwarzen Kordel. Das war die übliche Art hier, Pakete zu verpacken, und so wäre es nicht weiter aufgefallen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass auf dem Papier weder Empfänger noch Absender vermerkt waren. Keine Namen.
Der Bibliothekar holte das Paket aus seiner Leinentasche und legte es in den verrosteten Spind. Die Tür knarrte in den Scharnieren, und der Bibliothekar musste ihr einen kräftigen Stoß versetzen, um sie zu schließen. Dann hing er das ebenso verrostete Vorhängeschloss wieder davor, das er erst vor wenigen Augenblicken entfernt hatte, und drückte es zu.
Das war die zwölfte Lieferung seit seiner Ernennung, und der neue Bibliothekar vollzog sie mit feierlichem Ernst. Er folgte dem Muster genau, das sein Mentor ihm vor einem Jahr beigebracht hatte. Er stellte sicher, dass er alleine war und nicht verfolgt wurde, und er ging auf verschlungenen Wegen zu seinem Ziel. Das Paket entsprach in Größe und Form genau den Vorgaben. Der Bibliothekar sprach mit niemandem über seine Aufgabe, und er war auch weiterhin in seinem alten Beruf tätig.
Er befolgte die Anweisungen buchstabengetreu und blieb nie länger als nötig
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