Die verlorene Bibliothek: Thriller
und keinen Präsidenten hatte, kam ihm vermutlich sinnlos vor.
»Wie auch immer«, erwiderte Emily, »Sie und Ihre kanadischen Freunde können uns gerne jederzeit besuchen. Unsere rebellischen Kolonien würden Ihnen mit Vergnügen ins 21. Jahrhundert helfen. Oder sollen wir lieber mit dem 20. beginnen? Oder mit dem 19. vielleicht? Ich kann mir nie merken, in welchem Sie stecken geblieben sind.«
Nun grinsten sie beide von einem Ohr zum anderen.
Kyle beobachtete das Ganze und kam sich ein wenig wie ein Teenager vor, der zwischen zwei fröhlich scherzenden alten Freunden gefangen war und unfreiwillig zum Ziel ihrer Scherze wurde.
Wexler stützte sich auf die lederne Armlehne und drehte sich zu seinem Gast um. »So!«, sagte er. »Da wir das nun geklärt haben, gestatten Sie mir, auf den Punkt zu kommen. Ich habe Kyle mitgebracht, weil unser braver Kanadier hier eine gewisse Leidenschaft für Ihr Themenfeld entwickelt hat, Miss Wess.«
Emily biss sich auf die Zunge. Es heißt Doktor Wess, Professor . Sie war sich nicht sicher, ob Wexler sie durch das Weglassen ihres Titels einfach nur weiter necken wollte, oder ob er schlicht vergessen hatte, dass Emily inzwischen ihren Doktor gemacht hatte.
»Die Bibliothek von Alexandria ist schon seit Jahren ein Hobby von mir«, warf Kyle ein.
Emily verbarg ihr Staunen wie auch die instinktive Sorge, die sie überkam. Wusste dieser Fremde etwa, warum sie hier war? Sie hatte seit kaum fünfundvierzig Minuten englischen Boden unter den Füßen, und schon saß der Assistent ihres alten Professors neben ihr und kam auf den Punkt. Emilys Blick wanderte wieder zu Wexler zurück.
»Ausgesprochen effizient«, bemerkte sie.
»Ich habe ihn sofort angerufen, nachdem wir beide miteinander telefoniert hatten«, erklärte Wexler. »Als Sie mir von den Briefen erzählt haben, war mir klar, dass ich ihn hinzuziehen muss. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Ich weiß, dass Sie das nicht an die große Glocke hängen wollen.« Wissend tippte er sich an die Nase.
»Nein, nein, natürlich macht mir das nichts aus«, erwiderte Emily, obwohl sie sich da gar nicht so sicher war. Instinktiv hätte sie ihre Informationen lieber für sich behalten, doch jemand, der die neuesten Forschungsergebnisse zur Bibliothek kannte, könnte ihr vielleicht hilfreich sein.
»Kann ich … Kann ich diese Briefe mal sehen?« Erwartungsvoll streckte Kyle die Hand aus. Emily musste erst einmal darüber nachdenken; sie war noch nicht wirklich bereit, ihre Zurückhaltung aufzugeben. Dann schaute sie fragend zu Wexler, und ihr alter Professor sah sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft ernst an.
»Emily, er ist einer meiner besten Studenten. Niemand wird Ihnen besser helfen können als er.«
Emily zögerte noch einen Moment länger; dann griff sie in ihre Tasche und holte die Briefe heraus. Kyle nahm sie aufgeregt entgegen und verschwand in seiner eigenen Welt. Erneut drehte Emily sich zu Wexler um, der das alles interessiert beobachtete.
»Wie ich Ihnen am Telefon schon gesagt habe, ist Holmstrand gestern ermordet worden … also eigentlich vor zwei Tagen mit der Zeitverschiebung und so … Dienstagnacht.«
»Der arme Professor Holmstrand«, seufzte Wexler. »Er war ein guter Mann. Vor ein paar Jahren hat er mal ein Buch von mir rezensiert.« Holmstrand hatte das Buch mit scharfer Zunge Wort für Wort zerlegt, und Wexler hatte es geliebt. In akademischen Kreisen war chirurgische Kritik genauso begehrt wie Lob.
»Dann kennen Sie ja seine Reputation.«
»Er ist ein Mann, den man ernst nimmt.« War . Wexler fiel sein Fehler sofort auf; doch es war nicht leicht, von der Gegenwart in die Vergangenheit umzuschalten, wenn es um Menschenleben ging.
»Genau das ist der Grund, warum ich hier und nicht daheim bei meinem Verlobten bin, um mit ihm einen Truthahn zu verschlingen und mich über die Spielchen eines alten Mannes totzulachen.« Emily zog ihren Sicherheitsgurt zurecht, der sie unangenehm in den Ledersitz drückte.
»Ah ja, der liebe Sir Michael«, sagte Wexler. »Wie geht es unserem Expatrioten?«
»So gut wie eh und je. Er lässt Sie schön grüßen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er inzwischen voller Verachtung auf seine englische Vergangenheit herabsieht, nachdem er ein paar Jahre auf dem heiligen Boden der Vereinigten Staaten verbracht hat.«
»Der Junge hat noch nie gewusst, was gut für ihn ist«, schoss Wexler zurück und nickte verschlagen.
Emily lächelte, doch ihre Gedanken wanderten schon wieder zu
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