Die verlorene Bibliothek: Thriller
wimmelte, vergrößerten das Chaos sogar noch. Uniformierte sperrten Areale ab, die einsturzgefährdet waren, während andere eifrig jede Einzelheit aufzeichneten, und ein nahezu endloser Strom von Ermittlern sprach in Funkgeräte und Handys und berichtete von den bisherigen Ergebnissen.
Es war genau die Art von konventionellem Chaos an einem übergroßen Tatort, auf das Jason und sein Partner gezählt hatten. Inmitten all dieser unterschiedlichen Behörden mit ihren eigenen Dresscodes und Ermittlungsmethoden waren die beiden Männer so gut wie unsichtbar, sodass sie ihrer Arbeit ungestört nachgehen konnten.
Und das wollten die Freunde: Sie waren eher wegen einer Studie hier, weniger wegen einer Ermittlung. Sie kannten die Ursache für die Explosion. Sie wussten, warum die Bombe gelegt worden war. Die speziellen Details, die die Polizei versuchte zu ermitteln – Sprengstofftyp, Zündmechanismus –, waren für sie nur von geringem Interesse. Sie konzentrierten sich ganz darauf, das zu studieren, was übriggeblieben war, um so feststellen zu können, was genau zerstört worden war. Sie wollten wissen, was durch den Anschlag versteckt worden war. Denn das war ein Spiel – die Freunde wussten das –, ein Versteckspiel. Allerdings hatte der Bewahrer versucht, sie vom Suchen abzuhalten. Er hatte sie um das weinen sehen wollen, was vernichtet worden war. Doch der tote Mann würde seinen Willen nicht bekommen.
»Halt es so ruhig wie möglich«, befahl Jason seinem Partner. Er führte das kleine Gerät in seiner Hand, kaum größer als ein Camcorder, an einer der langen Kirchenwände entlang, und die Bilder, die es aufnahm, wurden an den Laptop auf Jasons Schoß weitergeleitet.
»Wackel nicht so«, fügte er hinzu. »Wir müssen die Konturen genau erkennen können.«
Der andere Mann hielt den Arm so ruhig er konnte und führte die Bewegung glatt zu Ende.
»Damit hätten wir die vierte«, sagte er und schaltete das Gerät ab.
Jason schaute auf seinen Laptop, während die neuesten Messungen des Kircheninneren geladen wurden. Das Programm arbeitete bereits und fügte das Bild mit den anderen drei zusammen. So entstand nach und nach ein dreidimensionales Bild der Struktur.
»Fang am Dach an«, befahl Jason. Der zweite Mann drückte einen kleinen roten Knopf an dem Gerät und begann mit einem fünften Scan. Diesmal richtete er es nach oben und bewegte es langsam von einem Ende der Kirchendecke zur anderen.
Jason klappte sein Handy auf, und ein paar Tastendrucke später wurde er mit dem Team in London verbunden.
»Sehen Sie das?«
»Ja«, antwortete eine leidenschaftslose Stimme. »Stellen Sie eine Netzverbindung her; dann zeigen wir Ihnen, was wir haben.« Jason arbeitete sich durch ein Bildschirmmenü, und die Einwegverbindung zu den Servern in London wurde wechselseitig. Sofort wurden die Bilder aus dem Labor auf seinen Laptop gestreamt.
»Ich bekomme was«, bestätigte er. Auf seinem Monitor erschien ein ähnliches dreidimensionales Bild der Kirche. Größtenteils war es mit dem identisch, das er und sein Partner aufgenommen hatten, doch es gab einen signifikanten Unterschied: Das Modell aus London wies keinerlei Zerstörung auf. Es zeigte die Kirche intakt.
»Wir haben Bilder aus unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt«, erklärte der Mann aus London. »Was Sie da sehen, ist der Innenraum, wie er vor knapp zweiundsiebzig Stunden ausgesehen hat; einige Segmente sind sogar noch neuer.« Die elektronischen Ressourcen des Rates waren gewaltig und seine Techniker fähig. Obwohl er das schon oft gesehen hatte, staunte Jason immer wieder, wie viel Bildmaterial online erhältlich war, seien es offizielle Fotografien, Satellitenaufnahmen oder auch Privatfotos von Touristen. Mit ein wenig Mühe konnte man das komplette Innere und Äußere jedes berühmten Gebäudes auf der Erde rekonstruieren, und das bis ins kleinste Detail.
Doch in diesem Fall musste man noch nicht einmal so viel Aufwand betreiben; das wusste er. Der Rat hatte Oxford schon seit Jahrzehnten im Blick gehabt. Auch wenn sie keine direkte Verbindung hatten herstellen können, Oxford war dem Rat bekannt, und deshalb hatte man auch eine beachtliche Datenbank dazu aufgebaut. Und Scoutteams von Freunden fügten stets neues Material hinzu, Fotos, Filmaufnahmen, alles. In den letzten sechs Monaten mehr denn je, denn die Verbindung des Bewahrers zu dieser Stadt hatte die Alarmglocken schrillen lassen, und so hatten sie Oxford noch genauer im Auge behalten
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