Die verlorene Bibliothek: Thriller
Bibliothekar. Er hatte den größten Teil seines Arbeitslebens dem Dienst an ihr gewidmet. Emily Wess wiederum wusste erst seit wenigen Minuten davon, und doch lastete bereits die Zukunft der Bibliothek auf ihren Schultern. Wie Athanasius es ihr erklären und sie in die Gesellschaft aufnehmen würde, war von kritischer Bedeutung.
»Was das Wie unserer Arbeit betrifft«, begann er, »so muss man erst einmal das Wer und das Warum erklären. Unser vollständiger Name lautet ›Gesellschaft der Bibliothekare von Alexandria‹. Seit fünfzehn Jahrhunderten ist unsere Rolle unverändert: Wir bewahren das alte Wissen der Bibliothek und fügen ständig neues Material hinzu. Da oben«, er deutete zu der modernen Institution über ihren Köpfen, »sind sie stolz auf ein Archiv, das bis ins Jahr 1996 zurückreicht. Unseres hingegen … Nun ja, sagen wir, es reicht ein wenig weiter zurück.«
»Bis zur Zeit Ptolemäus des Zweiten«, bot Emily an, »dem Gründer der Bibliothek.«
»Nein, Dr. Wess«, korrigierte Antoun sie, »das Archiv der Bibliothek reicht sogar noch viel weiter zurück. Damals ist sie ja vielleicht gegründet worden, aber sie hat noch wesentlich älteres Material gesammelt. Wir haben jahrtausendealte Archive in unserer Sammlung. Manche stammen noch aus den Anfängen der Schrift. König Ptolemäus hatte eine Vision. Der Mensch, so sagte er, könne nur durch die Wahrheit leben, und deshalb müsse er Zugang zur Wahrheit aller Zeiten haben. Wir haben uns stets bemüht, dieser Vision zu folgen.«
Während Athanasius sprach, fühlte Emily deutlich die Würde und den Edelmut in den Worten des Mannes. Das ursprüngliche Projekt der Bibliothek war hehren Prinzipien gefolgt, und die Fortführung dieses Projekts schien ein genauso edles Ziel zu sein.
»Die dunklen Zeiten mögen ja vielleicht hinter uns liegen«, fuhr Athanasius fort, »aber die finstersten stehen uns noch bevor, und wenn wir der Vergangenheit gegenüber blind sind, dann ist es jeden Moment so weit. Zur Zeit von Ptolemäus nannten die Menschen sein Projekt die ›neue Morgenröte‹, den Aufstieg der Weisheit aus dem Chaos durch die Ordnung und die Bereitstellung von Wissen und der Möglichkeit, darauf zuzugreifen. Aber ein solcher Neuanfang wird meist nicht von jedem begrüßt. Sie sind doch Historikerin, nicht wahr, Dr. Wess?« Emily nickte. »Dann kennen Sie die Wechselfälle der Geschichte ja nur allzu gut. Ein Stamm kämpft gegen den anderen, ein Volk gegen seine Nachbarn, und eine Ideologie versucht, die andere in die Knie zu zwingen.«
Ja, dieser Aspekt der Menschheitsgeschichte war Emily nur allzu vertraut. Tatsächlich waren diese Konflikte sogar der Aspekt ihres Fachs, der sie stets am meisten fasziniert hatte, auch wenn das ständige Kriegführen ein schlechtes Licht auf den Zustand der Menschheit im Allgemeinen warf. Oft hatte sie gescherzt: Nenne einem Historiker zwei friedlich miteinander lebende Völker; dann gib ihm ein paar Jahrhunderte, und er wird dir zeigen, wie sie gegeneinander Krieg führen. Und das war ein optimistischer Maßstab. In den meisten Fällen reichten wenige Jahrzehnte dafür aus.
»Zwischen dem Beginn der antiheidnischen Kampagne durch die Christen im 4. Jahrhundert«, fuhr Athanasius fort, »und dem Aufstieg des Islam und dem Anrücken seiner Armeen im 7. Jahrhundert war das Umfeld, in dem unsere Bibliothek existierte, immer instabiler geworden. Das Wissen, das wir besaßen, das Material, das wir gesammelt hatten, all das rief den Neid oder den Hass viel zu vieler Kulturen und Völker hervor. Wir wussten, sollten wir die Bibliothek weiter an einem bekannten Ort belassen, dann würde sie niemals sicher sein … und die Welt wäre auch nicht vor dem Wissen sicher gewesen, das sie beherbergte. Vergessen Sie nicht, Dr. Wess, dass es in der Bibliothek nicht nur Literatur gibt. Sie finden dort auch …«
»Militärische Informationen«, warf Emily ein. »Politisch relevantes Material und alle möglichen Informationen über Staaten und ihre Regierungen.« Das war exakt die Art von Material, das ein König haben wollte.
»Nicht zu vergessen all die Dokumente zu wissenschaftlichen und technischen Durchbrüchen«, setzte Athanasius die Liste fort. »Also genau die Art von Information, die man als … als gefährlich bezeichnen kann.«
»Ich nehme an, Sie meinen bedrohlich«, korrigierte Emily ihn. »Information an sich ist nicht gefährlich, nur das, was man damit macht.« In der Vergangenheit hatte man sie ob dieser
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