Die verlorene Bibliothek: Thriller
Ansicht oft der Naivität bezichtigt, doch sie glaubte fest an diese Unterscheidung.
»Nein, ich meine gefährlich , Dr. Wess«, erklärte Athanasius und verzog das Gesicht. »Eine Bedrohung ist eine Sache, eine echte Gefahr etwas vollkommen anderes. Information ist nicht einfach nur eine romantische Idee. Ungefiltert kann sie tödlich sein.«
Diese Diskussion bereitete Emily sichtlich Unbehagen. Seit Jahrhunderten debattierten die Intellektuellen schon über dieses Thema, und es kam immer wieder auf den Tisch. Ist das, was wir wissen, gefährlich, oder das, was wir damit tun? Sie und Michael hatten öfter darüber diskutiert, als sie sich erinnern konnte. Michael verfolgte dabei eher einen ›vorbeugenden‹ Ansatz, wie er es nannte. Er war davon überzeugt, dass Information an sich schon Macht darstellte und dass die Menschen etwas erst wegen des Wissens taten, das sie besaßen. »Ohne die richtigen Werkzeuge können böse Menschen auch nichts Böses tun, hatte er Emily mehr als einmal erklärt. Sie sah das jedoch anders. Emily hielt es für weit gefährlicher, Informationen zu unterdrücken oder zu zensieren als die Informationen an sich.
Und sie wollte ihren Standpunkt auch jetzt vertreten, doch Athanasius kam ihr zuvor.
»Schauen Sie sich doch nur einmal die Geschichte der Moderne an. Stellen Sie sich einmal vor, was passiert wäre, wenn schon 1944 bekannt gewesen wäre, wie man eine Nuklearwaffe herstellt und zur Zündung bringt, zu einer Zeit, als drei Weltmächte versucht haben, sich gegenseitig zu vernichten. Würden Sie solch eine Information lediglich als Bedrohung bezeichnen oder als echte Gefahr?«
Emily schwieg. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Atompilze über Hiroshima und Nagasaki.
»Ein Imperium hat das andere abgelöst«, fuhr Athanasius fort, »neue Kulturen sind entstanden und haben alte Zivilisation besiegt und geschluckt. Was wäre wohl geschehen, wenn ein Heer detaillierte Informationen zur militärischen Macht der Gegenseite gehabt hätte? Wenn die Geheimnisse einer Regierung dem Feind bis ins kleinste Detail bekannt gewesen wären? Das ist genau die Art von tiefgreifender Information, die in der Bibliothek archiviert worden ist, nachdem die Grenze zwischen dem Sammeln von Informationen und der aktiven Suche danach verschwommen ist. Irgendwann haben die Bibliothekare nicht mehr nur katalogisiert und abgelegt, sondern sind selbst aktiv geworden, und das auf der ganzen Welt. Das Material, das sie zusammengetragen haben, sucht seinesgleichen. Nein, rasch wurde klar, dass eine kriegerische Welt so viel Wissen nicht ertragen konnte. Wir mussten die Welt vor dem beschützen, was wir wissen.«
Emily hörte aufmerksam zu, aber nicht nur ehrfürchtig, sondern auch beklommen. Wissen zu erlangen war das Wichtigste in ihrem Leben, doch es einfach vor der Welt zu verstecken … Das war schlicht Zensur. Trotz der Gefahren, die Athanasius erwähnt hatte, hatte die Welt nur allzu oft gesehen, wozu Zensur schlussendlich geführt hatte.
»Also«, erzählte Athanasius weiter, »hat der Chefbibliothekar, der Bewahrer der Bibliothek, die Entscheidung getroffen, sie in den Untergrund zu verlegen. Und so wurde dann auch die Gesellschaft gebildet. Das alles geschah Anfang des 7. Jahrhunderts, und seitdem kümmern wir uns um sie … seit sie für die Welt ›verloren‹ war. Tatsächlich ist sie jedoch nach Konstantinopel verlegt worden. Die kaiserliche Hauptstadt war zu diesem Zeitpunkt zwar schon mehrere hundert Jahre alt, aber im Vergleich zu Alexandria geradezu jung, doch inzwischen war sie zum intellektuellen Herz des Reiches geworden.
Das muss ein ungeheures Unterfangen gewesen sein«, sinnierte Athanasius sichtlich fasziniert. »Millionen von Schriftrollen, Manuskripten, Büchern … All das musste insgeheim auf Schiffe verladen und über das Mittelmeer bis an den Bosporus und in einen neuen unterirdischen Komplex geschafft werden, der extra dafür gebaut worden war.«
Emilys Fantasie folgte Athanasius’. Angesichts der Größe, die die Bibliothek im Laufe der Jahrhunderte erreicht hatte, musste die Transportflotte gewaltig gewesen sein. So etwas geheim zu halten war fast unmöglich. Trotzdem hatte Emily nie auch nur von einem solchen Unterfangen gehört, noch nicht einmal in den Legenden. Also war Athanasius’ Geschichte entweder gelogen, oder aber es handelte sich wirklich um einen riesigen antiken Vertuschungsskandal.
»Und die Bibliothek blieb bis etwa Mitte des 16. Jahrhunderts in
Weitere Kostenlose Bücher