Die verlorene Bibliothek: Thriller
hört der Kandidat zum ersten Mal von der Bibliothek und der Gesellschaft.«
»Aber ich …«
»Sie waren noch nicht so weit«, unterbrach Athanasius sie. »Sie sind erst seit gut einem Jahr Kandidat.«
»Seit einem Jahr!« Emily konnte einfach nicht glauben, dass sie schon so lange von dieser Gruppe beobachtet worden war. »Aber wer ist denn mein ›Mentor‹, wie Sie das genannt haben?«
Athanasius verzog das Gesicht.
»Unter normalen Umständen hätten Sie das nie erfahren, Dr. Wess«, antwortete er, »aber die Umstände sind alles andere als normal. Ich denke, Sie wissen ganz genau, wer Sie beobachtet und vorbereitet hat. Er war der Mann an der Spitze. Der Bewahrer höchstpersönlich.« Er hielt inne, damit Emily das erst einmal verdauen konnte.
Auf die Frage, wer das gewesen sein könnte, fiel Emily nur ein Name ein.
»Arno Holmstrand.« Davon war sie fest überzeugt. Schon ganz zu Anfang, als Athanasius gerade mit der Beschreibung der Gesellschaft begonnen hatte, hatte Emily so eine Ahnung gehabt, wer der Bewahrer sein könnte. Nun war sie sich sicher. »Professor Arno Holmstrand war der Bewahrer.«
Athanasius’ Gesicht nahm einen sanften Ausdruck an, als er den Namen hörte.
»Ja, Dr. Wess. Arno war der Bewahrer und Ihr Mentor. Und er war ein guter Mann.« Seine Gefühle waren ihm deutlich anzuhören.
Emily hätte sich Athanasius in seiner Trauer am liebsten angeschlossen, denn auch ihr drohten jedes Mal, die Tränen in die Augen zu treten, wann immer sie den Namen hörte. Und diese Trauer hatte nun eine ganz neue Dimension bekommen, nachdem sie erfahren hatte, dass Arno schon seit langem Teil ihres Lebens gewesen war, nur ohne dass sie es bemerkt hätte. Doch im Augenblick war da kein Platz für Trauer, denn dafür war Emily viel zu verwirrt, aufgeregt und auch verängstigt. Ihre Verstrickung in die Ereignisse der letzten beiden Tage war kein Zufall. Seit über einem Jahr stand sie nun schon unter der Aufsicht einer geheimnisvollen Gesellschaft und wurde vorbereitet …
Vorbereitet auf was? Was genau erwartet man von mir? Ein Teil von ihr drängte sie wegzulaufen, und zwar so schnell und so weit wie möglich; ein anderer, größerer Teil von ihr fasste jedoch neuen Mut, und sie wollte tiefer in dieses Wissen vordringen. Wenn sie wirklich eine Bibliothekarin werden wollte, dann musste sie auch wissen, was das genau bedeutete.
Sie schaute Athanasius in die Augen.
»Und? Was kommt normalerweise als Nächstes? Nach diesem komplizierten Rekrutierungsprogramm, wie genau gehen die Bibliothekare dann ihrer Arbeit nach? Bis jetzt haben Sie mir zum Beispiel nicht erklärt, wie man all diese Informationen der Sammlung hinzufügt, wenn man nicht weiß, wo die Bibliothek ist.«
»Die Früchte unserer Arbeit werden dem Bewahrer jeden Monat per Päckchen übermittelt.«
»Per Päckchen?«
»Sie wissen schon: kleine, mit Schnüren umwickelte Pakete.«
Emily stutzte kurz ob dieses unerwarteten Anflugs von Humor, doch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, fuhr Athanasius fort:
»Aber natürlich werden sie ihm nicht per Post geschickt. Das wäre zu riskant. Stattdessen werden sie eingesammelt. Jeden Monat packen wir unsere neuen Informationen zusammen und deponieren sie zur Abholung.«
»Wo?«
»Die Abgabestelle variiert von einem Bibliothekar zum anderen. Im Rahmen des Rekrutierungsprozesses sagt man uns wo, wie und wann wir unseren Beitrag abzugeben haben. Dann machen wir das jeden Monat wie vorgeschrieben. Der Bewahrer stellt ein Team von drei Gehilfen pro Bibliothekar zusammen … Der Bibliothekar kennt die Leute nicht, aber es ist ihre Aufgabe, die Arbeit des Bibliothekars zu überwachen und jeden Monat die Päckchen einzusammeln. Die Arrangements sind für jeden Rekruten unterschiedlich. Das gilt natürlich auch in Ihrem Fall.«
Emily schaute ihm bei den letzten Worten nicht in die Augen. Je mehr sie über ihre eigene Verstrickung erfuhr, desto unbehaglicher war ihr zumute, und ihr lief ein Schauder über den Rücken. Dabei war das System an sich schon überwältigend genug, auch ohne sich zu vergegenwärtigen, dass sie selbst schon seit über einem Jahr Teil davon war, wenn auch unwissentlich. Und dieses System wurde nicht nur nach außen hin geheim gehalten. Die Bibliothekare wurden nicht nur über den Standort der Bibliothek und die Identität ihrer Kollegen im Dunkeln gelassen, sie wussten auch nicht, in welchen Metarahmen die von ihnen gesammelten Informationen eingefügt wurden. Die einzelnen
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