Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Die Schwester saß am Tisch, noch im Nachthemd, das Haar offen, so schön und so nachlässig ihrer Umwelt gegenüber, dass Helene unversehens verharrte. Auf dem Boden zu ihren Füßen spielte Luisa mit ein paar Holzlöffeln, von ihrer Mutter ab und an freundlich ermahnt. Marianne hielt etwas in der Hand, was Helene nicht erkennen konnte. Was sie aber erkannte, war das Strahlen auf dem Gesicht ihrer Schwester, ein Strahlen, das ihr nicht unbekannt war, das Strahlen, das nur Gianluca hervorzuzaubern in der Lage war.
»Marianne?«
»Helene.« Indem Marianne sich zu ihrer Schwester umdrehte, sah diese, was sie in der Hand hielt. Ein Brief, den sie dieses Mal nicht versteckte. »Gianluca hat geschrieben.«
Ich weiß, dachte Helene, ich weiß es schon lange. Er hat dir nicht zum ersten Mal geschrieben. Für sie war Mariannes Lachen wie eine Rute.
»Er wartet auf mich«, sagte die Ältere. »Er möchte, dass wir, Luisa und ich, bald zu ihm kommen.«
Helene wurde es eiskalt. Ihre Finger waren plötzlich gefühllos. Sie rutschten vom Türrahmen, an dem sie sich festgehalten hatte, die Beine gaben unter ihr nach.
»Aber was machst du denn da, Lele?« Marianne lachte, während Helene sich hochrappelte.
»Entschuldige, ich bin gestolpert.« Ihre Kehle war trocken. Sie musste sich räuspern. »Wann wirst du gehen?«
Wann willst du mich verlassen?, wollte sie fragen. Wann willst du meine Gefühle erneut mit Füßen treten?
»Ich weiß es noch nicht«, Marianne schaute auf den Brief, »in diesem Monat noch, oder im nächsten? Ach, er wird es mir schreiben. Ich bin ja so glücklich. Freust du dich mit mir, Lele? Ich dachte, er ist auf immer fort, weißt du? Wenn du dich mit mir freust, bin ich noch glücklicher.«
Aber du wusstest doch schon, dass er hier ist, höhnte eine Stimme in Helenes Kopf, hältst du mich wirklich für so dumm? Aber sie sagte nichts. Es gelang ihr sogar zu lächeln.
»Ja.« Helene befand, dass ihre Stimme kühl klang, aber Marianne bemerkte es nicht. »Ich freue mich.«
»Oh, wie wunderbar, du bist meine liebste Schwester.«
Ich bin deine einzige Schwester, dachte Helene. Laut fragte sie: »Würdest du hierbleiben, wenn ich dich darum bitte?«
Marianne schaute sie einen Moment lang verblüfft an, dann lachte sie auf. »Das meinst du nicht ernst, oder? Nein, natürlich meinst du das nicht ernst.«
Helene gelang es, ebenfalls zu lachen. »Nein, ich habe gescherzt.« Sie beugte sich zu Luisa hinunter, herzte und küsste sie zum Morgengruß. Das Frühstück lag ihr an diesem Morgen schwer wie Flusskiesel im Magen.
In der folgenden Nacht konnte Helene nicht schlafen. Am nächsten Morgen, während Marianne noch mit der Kleinen im Bett lag, machte sie sich auf den Weg zum Haus ihrer Eltern. Noch in Sichtweite des Häuschens, das sie sich mit ihrer Schwester teilte, begann es zu regnen. Es regnete so heftig und mit solch schweren Tropfen, dass Helene auf dem kurzen Weg vollkommen durchnässt wurde. Als sie den Hof erreichte, stand das Wasser in ihren Schuhen. Ihre Kleidung klebte ihr am Körper, und das Haar hing in nassen Strähnen in ihr Gesicht. Niemand war zu sehen. Aus den Stallungen drangen Stimmen, doch Helene ging schnurstracks auf das Haus zu, öffnete die Tür und erreichte im nächsten Moment die Küche. Wie immer zu dieser Tageszeit stand ihre Mutter am Herd und rührte in einem Kessel Suppe. Sie drehte sich um und wollte sehen, wer da gekommen war. Ein strahlendes Lächeln zeichnete sich sogleich auf ihrem Gesicht ab.
»Helene, Kind, ich freue mich so sehr. Du warst so lange nicht mehr hier. Wie geht es dir?«
»Gut, danke.« Helene musste kurz den Blick senken. Du hättest uns jederzeit besuchen können, dachte sie, warum hast du es nicht getan? Hat es dir gereicht, dein Enkelkind und deine Töchter einmal in Monaten zu sehen? Was ist mit deinem Sohn, wo ist der? Du hast wahrlich nicht mehr viele Kinder …
»Ist Vater da?«, fragte sie laut.
»Willst du zu ihm?«, entgegnete die Mutter. »Ihr habt euch auch schon lange nicht gesehen, nicht wahr? Es ist traurig …«
Helene nickte.
Nachdenklich blickte die Mutter ihre jüngste Tochter an.
»Er ist in seinem bureau «, sagte sie endlich.
Die Mutter wollte sich schon abwenden, da brachte Helene noch einmal die Lippen auseinander. »Wie geht es Christoph? Habt ihr von ihm gehört?«
Emmeline verharrte, den erhobenen Löffel in der Hand.
»Nein …« Für einen Moment schien sie doch mit den Tränen zu kämpfen. »Nichts mehr, seit
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