Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
zu sehen, welche Fortschritte sie gemacht hat.«
»Oh, natürlich. Wie rücksichtslos von mir.« Lachend begann Marianne im Kessel zu rühren. »Du sagtest ja, dass du müde bist, und ich denke mal wieder nur an mich. Du kriegst jetzt erst einmal einen Teller Suppe, und dann gehst du brav ins Bett und schläfst dich aus.«
»Aber ich habe keinen Hunger«, wollte Helene abwehren.
»Keine Widerrede«, sagte Marianne.
Die Suppe schmeckte nicht – Marianne konnte einfach nicht kochen –, aber Helene aß sie trotzdem. Nichts hätte ihr heute geschmeckt, noch nicht einmal ihre Lieblingsspeise. Bald danach schleppte sie sich die Treppe hinauf zu ihrem Bett. Sie zog die nasse Kleidung vom Leib und schlüpfte in ihr Nachthemd. Obwohl sie gefürchtet hatte, nicht einschlafen zu können, fiel sie schnell in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Der neue Morgen kam viel zu rasch.
Über die nächsten Tage schreckte Helene bei jedem Klopfen an die Tür zusammen. Friedel kam Marianne und sie besuchen, obwohl andere Knechte und Mägde den Korb mit dem Essen vorbeibrachten.
Vielleicht, dachte Helene mehr als einmal, sollte ich zu Vater gehen und ihm sagen, dass ich ihm nicht helfe. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass Marianne ihr Kind behalten muss.
Es berührte sie in diesen Tagen des Wartens mehr als sonst, die Schwester mit der Kleinen spielen zu sehen. Es berührte sie, zu sehen, dass Marianne Nadel und Faden zur Hand nahm, obwohl sie das Nähen hasste. Mariannes Hemdchen für Luisa gerieten immer etwas schief, und Helene fand viel Verbesserungswürdiges an ihnen, aber man musste der Schwester zugestehen, dass sie mit Liebe genäht waren.
Und dann, wenn sie wieder einmal kurz davor stand, den Vater aufzusuchen, rief sie sich ins Gedächtnis, dass nicht nur sie auf Nachricht wartete. Auch die Schwester wartete, und wenn Gianlucas Nachricht eintraf, dann würden Marianne und Luisa endgültig aus Helenes Leben verschwinden. Sie würde alleine sein, einsamer als je zuvor, denn dann würde sie wissen, was sie verloren hatte. Das konnte und wollte sie nicht zulassen. Es war unmöglich, danach weiterzuleben.
Es war ein sonniger Junitag, ein Tag, der die ganze Kraft des Sommers zeigte, die Sonne stechend, der Himmel schmerzend blau, als Marianne schließlich auf ihre Schwester zukam.
»Ich möchte morgen noch einmal Mutter besuchen«, sagte sie, »würdest du auf Luisa aufpassen?«
»Natürlich.«
Nun, da die Ereignisse ihren Lauf nahmen, fühlte Helene kein Zögern mehr in sich. Sie blieb noch einen Moment im Hof, sagte dann, sie wolle sich zu einem Spaziergang aufmachen. Sie ging nicht ganz auf dem direkten Weg zu ihrem Elternhaus, aber sie vermied die letzten Umwege, um nicht zu viel Zeit zu verschwenden. Sie sagte dem Vater, dass Marianne am nächsten Tag kommen werde, und hockte sich danach noch ein wenig zum Weinberghäuschen. Sie war nicht mehr häufig hier gewesen seit Antons Sturz.
Auch an diesem Abend aßen, redeten und handarbeiteten Marianne und sie zusammen. Gemeinsam gingen sie zu Bett. Wenn Marianne am nächsten Tag aufbrach, würde Helene sich mit Luisa draußen auf die Bank setzen und warten.
D reizehntes Kapitel
Helene hörte den Hufschlag, bevor sie den Vater sah. Offenbar war er ein wenig zu schnell geritten, denn er musste sein Pferd streng zügeln, als er den Hof erreichte. Als er sie sah, sprang er vom Pferd und führte es am Zügel hinter sich her. Mit großen Augen und begleitet von Jauchzern begrüßte Luisa staunend das große Tier.
Valentin blieb zuerst stumm.
»Sie ist groß geworden«, sagte er schließlich mit Blick auf seine Enkeltochter. »Ein hübsches Kind ist sie. Sie erinnert immer mehr …« Er brach ab.
»Ja«, bestätigte Helene nur. Sie musste nichts weiter sagen.
Luisa schaute ihren Großvater unterdessen von unten herauf unverwandt an. Der erwiderte ihren Blick.
»Sie hat gar keine Angst«, bemerkte er.
»Sie hat keine Angst, weil ich da bin«, erwiderte Helene.
Valentin ließ den Zügel seines Pferdes lockerer und erlaubte ihm, Gras zu rupfen.
»Ist es weit?«, fragte Helene schließlich.
Der Vater zuckte die Achseln. »Wenn ich dir erlaube mitzukommen, wirst du es Marianne auch nicht verraten?«
»Ich muss mitkommen, die Kleine würde sonst schreien.«
Der Vater nahm sie fester in den Blick.
»Du weißt, dass es besser für Marianne ist, wenn du nichts verrätst. Wir müssen ein neues Leben anfangen … ohne das Kind.«
»Ich sage nichts.«
Der Vater schaute sie
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