Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
schön. Haben wir noch welche?«
Helene stand auf, um zur Speisekammer zu gehen. Als sie mit dem Krug zurückkam, war Marianne näher zum Korb hin gerückt.
»Nur noch ganz wenig. Soll ich gehen und welche holen?«
Marianne strahlte sie an. »Das wäre lieb von dir.«
Helene erwiderte ihr Lächeln, nahm den Krug, ging durch den Flur, öffnete und schloss die Tür dann lautstark und trabte polternd davon. Als sie gleich darauf durch den Flur zurückschlich und durch den Türspalt spähte, klopfte ihr Herz bis in den Hals hinauf. Marianne stand immer noch am Küchentisch, hatte aber den Stoff aus dem Korb genommen und hielt Gianlucas Brief in den Händen. Sie weinte.
Nur eine knappe Woche später hörte Helene wieder einmal Stimmen aus der Küche, als sie von ihrem Spaziergang nach Hause kam. Es erschreckte sie nicht mehr. Sie war nun vorbereitet. Die schöne Zeit war vorbei. Die Zeit der Lügen hatte begonnen. Marianne hatte an diesem Tag Kopfschmerzen vorgeschoben. In Wirklichkeit, da war sich Helene sicher, wollte sie einen Brief an Gianluca schreiben. Sie selbst hatte Mariannes letzten aus dem Versteck genommen und durch einen eigenen ersetzt. Bis zu Gianlucas nächstem Brief war sie unruhig darob gewesen, ob er Mariannes Schrift kannte, doch offenbar hatte er keinen Verdacht geschöpft.
Sein nächster Brief war noch überströmender, gefühlvoller und hoffnungsvoller gewesen. Helene hatte seinen Zeilen entnommen, dass er darauf hoffte, Marianne bald zu sehen. Wenn sie sich einredete, dass der Brief an sie selbst gerichtet war und nicht an ihre Schwester, konnte sie sich fast glücklich fühlen. Anfangs war ihr das schwergefallen, aber mit jeder Zeile wurde es leichter.
Helene, meine liebste Helene … Sie musste sich nur vorstellen, dass diese Worte dort standen, dann war alles gut.
Auf leisen Sohlen schlich Helene näher zur Küche hin.
»Ich bin froh, dass es dich gibt, Friedel«, hörte sie Marianne nun sagen. »Sag, geht es ihm wirklich gut? Er schreibt es mir, aber er will mich sicher nicht aufregen. Also sag es mir frei heraus, geht es ihm gut?«
»Es geht ihm gut, Marianne, mach dir keine Sorgen.« Das nächste Wort ging in einem Rumpeln unter. Einer der beiden musste aufgestanden sein. Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Er muss sich schrecklich einsam fühlen«, war dann wieder Mariannes Stimme zu hören.
Friedel gab ein beruhigendes Knurren von sich. »Ja, das tut er, aber seit er weiß, dass es dir und dem Kind gut geht, ist es besser geworden. Hast du wieder einen Brief mitzugeben?«
»Er ist an Ort und Stelle.« Marianne seufzte. »Ich würde ihn so gerne sehen.«
»Du musst vorsichtig sein. Der Herr hat immer noch nicht vergessen. Erst gestern habe ich ihn sagen hören, dass er den italienischen Lumpen verhaften ließe, wenn …«
»Ach, ich weiß, ich weiß doch. Der Vater ist ein alter Sturkopf«, antwortete Marianne mit mehr Leichtigkeit in der Stimme, als sie wohl wirklich verspürte.
Helene hatte genug gehört. Leise huschte sie zur Tür zurück, öffnete sie lautstark und ließ sie ebenso geräuschvoll zufallen. Während sie erneut auf die Küche zulief, war das Scharren von Stühlen zu hören. Als sie den Raum betrat, saß Marianne am Küchentisch, vor sich eine Tasse Kräutertee. Friedel stand am Spülstein.
»Dann gehe ich mal«, sagte der alte Mann mit zittriger Stimme. Er konnte Helene nicht ansehen.
Z wölftes Kapitel
Helene hatte sich erleichtern müssen und erschrak, als sie bei ihrer Rückkehr ein Pferd vor dem Haus angebunden fand. Die Tür zum Häuschen stand offen, und ihr Herz begann sofort schneller zu schlagen. Marianne hatte ihr die Kleine zum Schutz überlassen, weil sie zum elterlichen Hof gehen wollte, um erstmals seit Langem wieder mit der Mutter zu sprechen. Sie hatte der Schwester versprochen, das Kind nicht aus den Augen zu lassen, doch sie hatte ein dringendes Bedürfnis verspürt und war deshalb kurz zur Latrine gegangen. Sie würde sich nie verzeihen können, wenn Luisa unterdessen etwas geschehen war.
Mit klopfendem Herzen trat sie ein. Die Stube sah aus, wie sie sie verlassen hatte. Kräftiger Sonnenschein fiel durchs Fenster. In den Sonnenstrahlen tanzten Staubkörner. Ihr Handarbeitskorb stand auf dem Tisch, wo ihn das Kind nicht erreichen konnte. Sie hatte Luisa auf einer Decke spielend zurückgelassen. Auf dem Stuhl am Tisch aber saß nun ein Mann und starrte das kleine Mädchen an. Unverwandt erwiderte Luisa den Blick des
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