Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
noch einmal prüfend an. Helene hielt seinem Blick stand.
»Dann lass uns aufbrechen«, sagte er endlich.
Er führte das Pferd am Zügel, während Helene mit dem Kind auf dem Pferderücken Platz nahm.
Helene hörte Luisas Schreien noch, als das Haus ihrer neuen Familie ein gutes Stück Weg hinter ihnen lag. Anfänglich war die Kleine neugierig gewesen, hatte sich umgeschaut, hatte sich auch gerne von der fremden Frau herzen, küssen und mit Naschwerk füttern lassen. Schwierig war es geworden, als Helene erstmals das Zimmer verlassen hatte. Sofort hatte Luisa kläglich zu weinen begonnen, sodass Helene noch einmal zurückgegangen war. Und doch hatte sie gewusst, dass sie gehen musste. Sie musste das Kind weinen lassen. Es war besser so. Hier würde sie in einer liebevollen Familie aufwachsen, als das Kind einer ehrbaren Mutter. Wenn Luisa bei Marianne blieb, würde sie niemals ein normales Leben führen können.
Keiner von uns könnte das dann, kam es Helene in den Sinn. Es ist besser, wenn sie aus unserem Leben verschwindet, und damit auch Gianluca.
»Denkst du an sie?«, fragte der Vater nun, der sein Pferd während des Rückwegs neben ihr herführte.
Helene nickte. Sie fragte sich, ob Marianne schon zurück war und was sie ihr erzählen sollte. Aber sie hatten sich ja beeilt. Es würde sicherlich noch einige Zeit dauern, bis Marianne kam, und bis dahin war ihr etwas eingefallen, dessen war sie sich sicher. Sie konnte einfach weinen. Zweifelsohne war ja wirklich etwas Schreckliches geschehen. Tränen waren da nur angebracht.
Es fiel Helene leicht zu weinen. Es fiel ihr leicht, weil sie um sich weinte, um Mariannes Freundschaft, um das, was gewesen war, um Gianluca und das verlorene Kind.
»Vater hat sie geholt«, schluchzte sie und warf sich in Mariannes Arme, um den Tränen und der Anspannung an deren Schulter freien Lauf zu lassen. »Ich konnte nichts tun, Mimi. Bitte glaube mir, ich konnte nichts tun.«
Sie spürte, wie Marianne ihr über das Haar strich, fest, sodass sich einzelne Strähnen aus der Frisur lösten. Es überraschte Helene und überraschte sie auch wieder nicht, aber Marianne weinte nicht. Sie sah erstaunlich gefasst aus, kalt und starr wie Stein. Vielleicht war es aber auch nur die Ruhe vor dem Sturm.
»Er hat mein Kind gestohlen«, sagte sie in gewissen Abständen, seltsam unbewegt im Tonfall. »Er hat mein Kind gestohlen.«
»Ich konnte nichts tun«, jammerte Helene dann. »Ich konnte nichts tun.«
»Ich weiß doch. Ich weiß es doch«, murmelte Marianne, umarmte die Schwester und küsste ihren Scheitel. Helene spürte die Berührung und wollte schaudern, aber es gelang ihr, sich zu beherrschen. Marianne strich sanft über ihren gekrümmten Rücken.
»Ich werde mit ihm reden, Lele. Er kann mir das Kind nicht abnehmen. Es ist meines.«
»Aber er wird nicht mit sich reden lassen, Mimi, du kennst ihn doch.«
Marianne sah sie ruhig an. »Nein, ich kenne ihn nicht. So kenne ich ihn nicht, verstehst du?«
Und dann weinte sie doch.
V ierzehntes Kapitel
Unruhig warf Marianne sich in dieser Nacht schlaflos von einer Seite auf die andere. Erst in den frühen Morgenstunden, ihr Kopfkissen fest gegen die Brust gedrückt, dämmerte sie vor Erschöpfung ein. Am späten Vormittag machte sie sich auf den Weg und erreichte wenig später den Hof der Eltern, zu einem Zeitpunkt, an dem am meisten Betrieb herrschte. Die Ersten, die sie sahen, hielten in ihrer Arbeit inne und starrten sie an.
Marianne hatte sich am Morgen keine Zeit genommen, das Haar zu frisieren, zu flechten oder in einen Knoten zu winden. Offen und zerzaust hing es ihr über die Schultern. Sie trug auch kein Häubchen und dazu ihr einfachstes Kleid. Ihre Füße waren ohne Schuhe und vom Weg schmutzig über die Schienbeine bis zu den Knien. Sie war eine Bittstellerin.
»Vater«, rief sie aus, als sie auf das Wohnhaus zuging. »Vater, bitte gib mir mein Kind zurück.«
Sie sah, wie Valentin, den sie gleich neben der Tür bemerkt hatte, zusammenzuckte, wie er sich fragte, ob es möglich war, nicht auf diese Stimme zu hören und sich ins Haus zurückzuziehen. Doch dann entschied er zu bleiben. Sicher spürte er – wie auch sie – die Blicke der anderen auf sich. Sie sah, wie er schwankte, doch er blieb stehen. Marianne rannen Tränen über das Gesicht, viele, viele Tränen, die sie gestern nicht hatte weinen können.
»Bitte, Vater, bitte gib mir mein Kind wieder«, schluchzte sie. »Ich bitte dich um nichts anderes, um
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