Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
finden würde. Sicher hatte Friedel der Schwester davon erzählt. Helene konnte ihn also nicht einfach verschwinden lassen.
Als sie Hufschlag hörte, stand sie auf. Der Reiter näherte sich aus der Richtung, aus der sie gekommen war, und schien es nicht eilig zu haben. Schließlich machte sie ihn am Ende des Weges aus: dunkles Haar, ein graubrauner Rock, ein dunkler Dreispitz.
Anton … Helene trat vom Wegesrand mitten auf den Weg. Ihrer gewahr zügelte Anton sein Pferd, um gleich darauf in leichten Trab zu wechseln.
»Helene«, rief er aus, »wir haben uns lange nicht gesehen. Es hieß, ihr wärt fort gewesen, bei Verwandten. Wie geht es dir?«
»Danke, gut.« Sie lächelte und hoffte, er werde sie nicht auf ihre rot geweinten Augen ansprechen. »Und dir? Geht es dir wieder besser?«
»Es ist lange her.«
Flüchtig fuhr er sich mit der Hand an die Stirn, auf der im hellen Licht noch die schmale Narbe zu sehen war. Ein Schatten flog über sein Gesicht, dann schenkte er ihr ein blasses Lächeln. Helene erwiderte seinen Blick und hätte am liebsten eine Hand gegen seine Wange gelegt, um ihn zu trösten. Sie waren beide enttäuscht worden, hatten beide verloren, waren beide betrogen worden.
Er warf nun einen genaueren Blick auf ihr Gesicht, bemerkte wohl doch, dass sie geweint hatte, aber er fragte sie nicht, und sie war dankbar darum.
»Wie geht es deinen Eltern?«
»Danke, es geht ihnen gut. Allerdings liegen sie mir in den Ohren damit, dass ich mir eine neue Braut suchen muss.« Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln, das sie erwiderte.
»Wie geht es Marianne?«, fragte er endlich.
»Gut.« Helene verschränkte die Arme vor der Brust. »Dem Kind auch.«
Anton runzelte die Stirn.
»Mutter und Vater tun mir natürlich sehr leid. Sie nehmen es sehr schwer, das wirst du gesehen haben, und ich …«, Helene hob die Schultern und sprach dann weiter, ohne ihn aus dem Blick zu lassen, »hoffe darauf, dass man den Fehltritt meiner Schwester vergessen wird.«
»Aber es war nicht deine Schuld«, sagte Anton leise.
Helene zuckte die Achseln, um dann den Blick abzuwenden. »Aber ich bin ihre Schwester«, sagte sie leise. Es fiel ihr erstaunlich leicht, neue Tränen hervorzupressen. Noch wusste sie nicht, warum sie sich so verhielt. Es war, als ob sie ein fremder Geist lenkte. Sie hörte, wie Anton vom Pferd sprang.
»Helene«, sagte er.
Wir waren Freunde, dachte Helene, Anton, Christoph, Marianne und ich. Wir waren Freunde, und so hätte es bleiben können. Sie hat alles kaputt gemacht.
Sie schaute ihn an, während zwei Tränen über ihre Wangen glitten. »Es tut mir leid, ich wollte nicht weinen, aber manchmal ist alles so furchtbar schwer.«
Sie schaffte es, seinem Blick standzuhalten. Braune Augen, dachte sie, ich habe nie gemerkt, dass er so schöne braune Augen hat. Fast ein wenig wie die von Gianluca. Anton zögerte noch kurz, dann legte er die Arme um ihre Schultern und zog sie an sich.
»Weine nicht, Helene, ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir.«
Helene hatte kaum die Tür geöffnet und hinter sich zugezogen, als sie von oben Mariannes Stimme hörte.
»Wo hast du denn den Korb? Friedel wollte ihn mitnehmen, aber wir konnten ihn nirgendwo finden.«
Helene im Halbdunkel des Flurs, die Hand noch am Türknauf, schaute nach oben zum Ende der Treppe hin, wo ihre Schwester wartete.
»In der Küche natürlich«, entgegnete sie und stellte zufrieden fest, dass ihre Stimme auch nicht das kleinste bisschen bebte.
»Aber da ist er nicht. Wir haben beide nachgeschaut.«
»Aber natürlich ist er da.« Auch die Empörung in ihrer Stimme klang echt. Helene war sehr zufrieden. »Ich werde ihn holen.«
Sie hörte, wie Marianne begann, die Stufen herunterzusteigen, aber bis die Schwester die Küche erreicht hatte, hatte sie den Korb längst aus der Ecke geholt, in der sie ihn verborgen hatte, und auch der Brief befand sich an Ort und Stelle. Als Marianne die Küche betrat, stand Helene schon am Spülstein und schälte einen Apfel. Mit einem Kopfnicken wies sie auf den Tisch.
Die Schwester blieb einen Moment lang in der Tür stehen, klatschte dann in die Hände und begann zu lachen.
»Da ist er ja. Kannst du dir vorstellen, dass wir ihn beide nicht gesehen haben?«
Helene lächelte. »Er stand die ganze Zeit in der Kammer dort.« Mit schnellen Schnitten hatte sie den Apfel zerteilt und steckte sich ein Stückchen in den Mund. »Möch test du auch?«
»Nein, aber ein Becher Milch wäre
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