Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
er nach der Belagerung auf und davon ist. Kommst du nachher noch einmal zu mir? Wenn du mit Vater gesprochen hast?«
»Ja.« Helene war schon an der Tür und durchquerte dann den Flur. Die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters war nur angelehnt. Helene konnte ihn durch den Spalt sehen, bevor sie die Tür ganz aufstieß. Er blickte auf, ließ die Feder auf den Tisch fallen, die er in der Hand gehalten hatte, und schaute sie an.
»Du bist nass«, sagte er.
»Ich bin durch den Regen gelaufen.« Helene ging zu dem kleinen Kamin in der gegenüberliegenden Zimmerecke, nahm ihr Schultertuch und drapierte es über einen Stuhl, bevor sie die eiskalten Hände gegen die Flammen streckte.
»Ich bin gekommen, um dir zu helfen.«
Ihr Vater schaute sie abwartend an.
»Wenn Marianne demnächst die Mutter besucht, und das wird sie sicher tun, denn sie hat schon davon gesprochen, wird das Kind an einen Ort gebracht werden, den du bestimmen magst.«
»Woher der Sinneswandel?«
Helene sah in die Flammen. »Ich denke, es ist besser so. Besser für Marianne. Besser für uns. Irgendwann werden die Leute vergessen, was sie getan hat, und wir können unser altes Leben leben.«
Besser für mich … Sie hielt die Hände nun so nah ans Feuer, dass es sie schmerzte. Der Vater sprang zu ihr hin und zog sie zurück.
»Kind, was tust du denn da?«
»Ich … Mir war kalt.«
»Aber du verbrennst dich ja!«
Helene antwortete nicht. Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann räusperte sie sich.
»Ich werde dir helfen, Vater, hörst du?«
»Gut. Dann komme ich vorbei, sobald sie Mutter besucht, und hole das Kind.«
Helene starrte wieder in die Flammen. Luisa würde weinen, wenn der Vater sie holte. Sie kannte ihn ja nicht.
Sie atmete tief durch. Sie würde dem nicht entkommen können. Sie würde sich schuldig machen müssen.
»Ich werde mitkommen, das ist besser.«
»Wenn du meinst.« Der Vater runzelte die Stirn.
Auch dieses Mal ließ Helene sich Zeit mit dem Nachhausekommen. Wieder vermied sie den direkten Weg, wählte schmale Pfade, drückte sich durch enge Durchgänge an Büschen und Hecken vorbei. Langsam lief sie, beschleunigte ihren Schritt nicht. Sie wollte nicht ankommen, wollte Marianne nicht ansehen müssen und das wissen, was sie wusste. Sie wollte auch Luisa nicht sehen, die Nichte, die sie doch eigentlich liebte. Sie wollte feststellen, dass das ganze letzte Jahr eines ihrer Hirngespinste gewesen war, solche, wie sie sie manchmal zu Papier brachte, ein Albtraum, aus dem man erwachen konnte, weil man Macht über ihn hatte. Sie wollte, dass sich nichts geändert hatte. Es waren wieder die Tage der großen Feiern in Mainz, und sie wusste, dass bald etwas Wunderbares geschehen würde.
Für einen Moment dachte Helene an ihre Mutter, die nach dem Gespräch mit dem Vater in der Küche auf sie gewartet hatte. Nach Luisa hatte sie gefragt, hatte auch wissen wollen, wie es Marianne ging.
»Soll ich Marianne sagen, dass sie dich besuchen soll?«, hatte Helene vorsichtig gefragt.
Die Mutter hatte nicht gleich geantwortet.
»Ja, bitte«, hatte sie dann geflüstert.
Helene war mit einem Mal so kalt, dass sie heftig zitterte. Als sie endlich wieder das kleine Haus betrat, das ihr über mehr als ein Jahr Heimat gewesen war, fror sie so sehr, dass ihre Zähne unablässig klapperten. An Händen und Armen hatten ihr Äste und Gestrüpp blutige Kratzer gerissen.
Marianne, die am Herd in einem Kessel Suppe rührte und dazu sang, bemerkte sie erst nicht, dann blickte sie auf. Ihre Augen weiteten sich.
»Meine Güte, Helene, was ist denn passiert?«
Sag es ihr!
»Ich war spazieren und habe mich doch tatsächlich verlaufen«, sagte sie laut. »Lass mich nur einen Moment am Feuer sitzen und mich sammeln. Ich bin todmüde. Dass mir so etwas passieren muss, unglaublich!«
»Frieren tust du auch.« Marianne schien überrascht. »Meine arme kleine Schwester, ja, wie konnte das nur passieren?«
Ja, wie konnte das nur passieren, wiederholte Helene bei sich, wie kann ich hier sitzen und dich anlügen. Wie kannst du mich so anlügen? Sie drehte den Kopf zum Feuer, damit Marianne die Tränen nicht sah, die in ihren Augen schimmerten.
»Schläft Luisa?«
»Ja.« Marianne untermalte ihre nächsten Worte mit Bewegungen ihres Kochlöffels. »Sie war so süß heute Morgen. Sie hat gebrabbelt, und sie hat Apfelstücke gegessen und … Aber du sagst ja gar nichts?«
»Ich bin doch etwas erschöpft. Es tut mir leid. Ich freue mich darauf, später
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