Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
sagte, sie beide bräuchten dringend Hilfe.«
Flüchtig runzelte Lea die Stirn. So, so, waren die beiden also schon beim Vornamen angelangt? Und was hatte Claire, die – zumindest was ihre Familie betraf – sonst so schweigsam war, wohl über die Enkelin erzählt? Lea musterte Tom verstohlen. Wenn sie ihn so ansah, musste sie wieder an diese erste, für sie doch recht peinliche Begegnung denken und an den Morgen des Streits mit Marc.
Marc, ach verflixt …
Sie gab sich einen Ruck.
»Großmutter meint also, ich brauche Hilfe?«
Leas Stimme klang spitzer, als sie beabsichtigt hatte. Eigentlich hatte sie ihren Ärger nicht zeigen wollen … Eigentlich hatte sie auch jetzt erst bemerkt, dass sie ärgerlich war.
»Sie beide, sagt Ihre Großmutter«, berichtigte Tom sie ruhig. »Es ist ein großes Haus, und es ist, weiß Gott, lange nichts daran gemacht worden. Über dreißig Jahre, sagt mein Onkel. Ich nehme nicht an, dass Sie solch eine aufwendige Renovierung schon einmal durchgemacht haben?«
»Nein.« Lea zog das Wort in die Länge. Der Ärger verflüchtigte sich so rasch, wie er gekommen war. Vielleicht waren es ja doch die Hormone. Sie unterdrückte ein unwillkürliches Kichern. Ganz sicher, das waren die Hormone.
»Kennen Sie das Haus denn?«, fragte sie dann.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, eher mein Onkel. Ich habe früher im Neubaugebiet gewohnt, es hieß damals noch Neu-Bonnheim, aber wir sind dann weggezogen. Als Onkel Wolf klein war, Anfang der Fünfziger, lebte sogar noch der alte Besitzer. Es gab da auch später noch ein paar Geschichten, aber ich erinnere mich nicht wirklich. Es ist zu lange her, und ich war zu klein.« Er machte eine Pause. »Na ja, wahrscheinlich war’s das übliche Dorfgeschwätz. Ein altes Haus, ein einsamer Besitzer, der sich aus dem Dorfleben heraushält. Sie wissen doch sicherlich, dass der Hof mal zum alten Dorf gehörte, oder? Das Dorf gibt es nicht mehr. Interessant, was? Ein ganzes Dorf, das einfach verschwindet.« Tom zuckte die Achseln. »Na ja, wie gesagt, wir müssten meinen Onkel fragen, wenn wir mehr wissen wollen.«
»Das wäre schön.«
Eine Weile schwiegen sie beide.
»Würden Sie mich einmal durchs Haus führen?«, fragte Tom dann. »Ich würde mir gerne ein Bild der Lage machen, damit ich weiß, was zu tun ist und wo ich am besten anfange.«
»Ja, natürlich.«
Lea war leicht verunsichert, als er ihr jetzt direkt folgte. Er hielt Abstand, trotzdem fühlte sie sich öfter versucht, sich nach ihm umzusehen. Sie hoffte nur, dass er es nicht bemerkte. Sie wusste einfach nicht, was sie von ihm halten sollte. Er erinnerte sie an einen Morgen, den sie schon fast vergessen hatte. Wenig später brach sie über die Vorstellung, Claire könne doch unzufrieden mit ihrer Arbeit sein, doch noch fast in Tränen aus.
Seit ein paar Tagen fühlte sie sich wirklich ungewöhnlich leicht reizbar. Ob das an der Schwangerschaft lag? Bisher hatte sie die Veränderungen, die ihr Körper mitmachte, fast problemlos bewältigt. Ein wenig Übelkeit, eine kaum erwähnenswerte Geruchsempfindlichkeit, seit ein paar Wochen die Abneigung gegen den geliebten Kaffee.
Dass dieser Tom gut roch, hatte sie festgestellt, als sie auf dem Weg zur Tür an ihm vorbeigegangen war – wie jemand, der sich häufig draußen aufhielt, nach Wind, Holz und trockenem Sommergras.
Vielleicht, überlegte Lea, kann ich mit seiner Hilfe mehr über dieses Haus erfahren, schließlich kennt er die Gegend besser als ich, und er hat einen Onkel, der offenbar mehr weiß. Vielleicht erfahre ich dann auch endlich, was Claire vor mir verbirgt.
Die folgenden Tage vergingen mit weiteren Aufräumarbeiten und Reparaturen. Neue Handwerker kamen, andere beendeten ihre Arbeit. Tom wollte sich als Erstes um die weitere Instandsetzung des Bodens kümmern, Lea würde Tapetenreste von der Wand schaben. Rike meldete sich auf dem Anrufbeantworter aus dem Urlaub zurück und bat um einen dringenden Rückruf wegen etwas, das ihr zu Ohren gekommen sei. Claire verschwand ein zweites Mal und kehrte auch dieses Mal sehr spät und recht schweigsam zurück. Wenn Lea gehofft hatte, mit Toms Auftauchen erste Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, so wurde sie enttäuscht. Am Haus gab es so viel Praktisches zu tun, dass sie gar nicht dazu kamen, seine Geschichte zu erforschen oder sich überhaupt etwas intensiver zu unterhalten. Und abends, nach getaner Arbeit, fuhr er stets nach Hause.
Am Morgen des 5. August schließlich stolperte
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