Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
hatte.
Sie musste sich aus den Gedanken reißen. Tom war wieder aufgestanden und stand jetzt so nahe bei ihr, dass eine winzige Bewegung genügte, um ihn zu berühren. Und sie wollte ihn berühren. So sehr. Sie rückte von ihm ab.
»Tee?«, fragte er sie. »Ich brauche jetzt einen, du auch?«
»Ja, warum nicht?« Wieder einmal hatte er die seltsame Stimmung zwischen ihnen aufgelöst, und Lea war froh darum.
Sie folgte ihm in die Küche. Wenig später saßen sie einander am Küchentisch gegenüber. Sie nippte am Früchtetee, während Tom noch nachdenklich in seinem Becher rührte. Über der goldfarbenen Flüssigkeit stand kaum sichtbarer Dampf. Es roch sehr fein nach schwarzem Tee. Tom legte den Löffel auf den Tisch und umfasste die Tasse dann mit beiden Händen.
»Nächsten Monat ist Mittelalterfest in Ebernburg. Würdest du mich dorthin begleiten?«, fragte er unvermittelt.
»Ich …«
Wieder einmal fragte Lea sich misstrauisch, ob ihre Großmutter den jungen Mann womöglich doch gebeten hatte, die Enkelin aufzumuntern. Aber warum sollte sie das tun? Nun, vielleicht war es dumm, sich solche Gedanken zu machen. Ja, vielleicht war es das wirklich, und doch konnte sie nichts dagegen tun.
Er hatte Lea nicht vergessen. Seit jenem Morgen am Rand des Weinbergs hatte Tom mehr als einmal an sie gedacht, und dann, als sie ihm da plötzlich gegenübergestanden hatte … Er hatte zuerst gar nicht gewusst, was er sagen sollte.
War es das, was die Menschen Schicksal nannten? Tom glaubte nicht an Schicksal. In diesem Zusammenhang aber hatte ihm die Vorstellung gefallen, dass es da etwas gab, was Lea und ihn, über den schnöden Zufall hinaus, miteinander verband.
Wütend hatte sie an jenem Morgen ihrer ersten Begegnung ausgesehen, verzweifelt, ängstlich. Zuerst hatte er sich erschreckt, wegen des Autos, das da mit offenen Türen stand, wegen der weinenden Frau. Und sie hatte ganz sicher geweint, ihre ganze Haltung hatte es gezeigt.
Wie wütend sie ihn angefahren hatte, wie eine Katze mit ausgefahrenen Krallen. Aber er hatte immer wieder an sie denken müssen, und das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Nicht mehr, seit … Nun, daran wollte er sich jetzt wirklich nicht erinnern.
Und dann noch dieser Zufall. Auf den Wunsch seines Onkels und Claire Hunters hin war er eigentlich eher unwillig zu diesem Haus gefahren – und dann hatte sie vor ihm gestanden. Völlig unerwartet. Ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.
Es hatte ihm wirklich kurz die Sprache verschlagen, aber er hatte sich, Gott sei Dank, rasch gefangen. Er hoffte jedenfalls, dass er sich nicht vollkommen blamiert hatte. Er wollte noch lange an diesem Haus arbeiten, sehr lange, und wenn er es so überblickte, war auch wirklich noch erfreulich viel zu tun. Vielleicht gab es sogar ein paar Dinge zu restaurieren …
Und danach waren noch die verbliebenen Weinberge dran. Das hatte Claire jedenfalls gesagt, erfreut darüber, dass Tom ein paar Semester Weinbau studiert hatte.
Tom fügte eine neue Diele an und zog einen langen Nagel aus der Tasche seiner Jeans. Lea hatte gute Vorarbeit geleistet. Sie selbst hatte den Boden aus den oberen Räumen herausgerissen. Für die Neuverlegung der Dielenbretter war nun er zuständig. Er schlug den Nagel ein, nahm einen weiteren zur Hand.
Irgendwo im Haus hörte er Lea singen. Er stellte sich vor, wie sie dabei immer mal wieder ungeduldig den Kopf zurückwarf, weil ihr wieder einmal das Haar in die Augen gefallen war. Sie war wirklich ein ungewöhnlich dunkler Typ. Natürlich waren dunkle Haare per se nichts Seltenes, er hatte ja selbst welche, aber Lea hatte etwas ausgesprochen Südländisches an sich, sodass er sich schon gefragt hatte, ob sie Spanier, Italiener oder Franzosen in der Familie hatte. Dazu war sie recht klein und auf ihre Art zierlich, ihr Mund breit und großzügig, die Augenlider schwer. Auf eine gewisse Art erinnerte sie ihn an eine italienische Mitschülerin aus der Mittelstufe.
Er bemerkte, dass er schon wieder in der Arbeit innegehalten hatte, und zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Das ist ein schönes Haus, überlegte er, warum hat man wohl früher nur so abfällig darüber geredet? Da war die Sache mit dem früheren Besitzer gewesen. Einzig Onkel Wolfs Tante Ilse hatte den alten Eigenbrötler verteidigt. Man könnte Ilse fragen, überlegte Tom, allerdings war das Gedächtnis der alten Dame mittlerweile recht schwach.
Mit ein paar gezielten Schlägen trieb er den nächsten Nagel ins Holz,
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