Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
auf dem Schlossplatz zusammengekommen, vornehmlich Bedienstete von Hof und Adel samt ihren Familien, die von zahlreichen Jakobinern auf ihrem Weg über die Schiffsbrücke nach Kastel heftig beschimpft worden waren. Die Geistlichen waren gefolgt, dann die Juden, die ebenfalls vielfach den alten Zeiten anhingen, danach die Pfarr- und Klostergeistlichkeit. Onkel Hubertus und Tante Juliane gehörten zu den Letzten, die die Stadt verlassen sollten. Zwei- bis dreitausend Personen hatten sich mit ihnen am heutigen Tag an der Rheinbrücke eingefunden.
Die Menge war bereits sichtlich unruhig. Mit einem Mal spürte Christoph Tante Julianes Griff an seinem Arm. Irgendwo waren Stimmen lauter geworden. Onkel Hubertus schaute teilnahmslos in die Weite, so wie er es tat, seit sie das Haus verlassen hatten. Ein dünner Faden Spucke lief aus einem Mundwinkel. Niemand wusste, wie viel er noch mitbekam.
Christoph dachte daran, mit welchem berührenden Ausdruck von Liebe und Zuneigung seine Tante ihrem Mann in den Rock geholfen und ihm den Dreispitz auf die Perücke gedrückt hatte, ihn dann auf beide Wangen geküsst hatte, bevor sie ihn noch einmal prüfend angesehen hatte.
Ein verwirrender Gedanke kam ihm in den Sinn, etwas, worüber er noch nie nachgedacht hatte. Plötzlich fragte er sich, ob Marianne Anton wirklich liebte, von dem es doch schon seit Jahren hieß, dass sie ihn eines Tages heiraten würde. Warum hatte sie damals gesagt, sie wolle den heiraten, den sie liebe? Warum, wenn das doch Anton war?
Christoph schüttelte heftig den Kopf, um sich wieder aus den Gedanken zu reißen, sah sich nach Onkel und Tante um.
»Was ist, Christoph?« Tante Juliane war die Bewegung nicht entgangen.
»Nichts, ach nichts, ich musste an Marianne denken.«
Juliane nickte. »Man denkt unweigerlich über sie nach, nicht wahr? Das war schon immer so. Man muss aufpassen auf sie. Sie ist ein Glückskind, aber man muss sie auch schützen. Sie braucht das. Wirst du das tun, wenn du wieder nach Hause gehst?«
»Vielleicht bist du ja vor mir da?«
»Ja, vielleicht.«
Juliane wandte sich Hubertus zu, hakte ihren rechten Arm unter seinen linken und schmiegte sich an ihn.
Die Menge setzte sich in Bewegung. Wenig später wurden sie vom französischen Posten zum Gautor geschickt, doch dieses zeigte sich bei der Ankunft verschlossen. Tumult brach aus, als nach langem Hin und Her schließlich eine Stimme vermeldete: »Es finden heute keine Exportationen statt. Geht wieder nach Hause!«
Nur einen Augenblick später geriet die Menge in Bewegung. Die einen machten ihrer Anspannung und ihrem Ärger Luft, die anderen gerieten in Panik. Gerade noch gelang es Christoph, seine Tante beim Arm zu packen, doch er konnte nicht verhindern, dass sie beide von Onkel Hubertus getrennt wurden.
Erst nach einer Weile kehrte wieder Ruhe ein, und Christoph schaute sich hastig um. Zuerst ließ sich nichts erkennen. Menschen waren zu Boden gegangen. Andere flüchteten. Wieder andere wurden bereits als Aufrührer in Gewahrsam genommen. Als er seinen Onkel entdeckte, wollte Christoph der Atem stocken.
»Hubertus!«, schrie Tante Juliane beinahe im gleichen Moment.
Onkel Hubertus lag auf dem Boden ausgestreckt. Als Christoph bei ihm anlangte, zeigte sich sein Gesicht rötlich-blau verfärbt. Mit einer Hand riss der Onkel schwach an seinem Hemdkragen, japste keuchend nach Luft. Tante Juliane fiel neben ihm auf die Knie.
»O Gott, Hubertus, verlass mich nicht, mein Herz, verlass mich nicht!«
Onkel Hubertus starb eine Woche später, ohne das Bewusstsein noch einmal erlangt zu haben. Kurze Zeit danach machte sich Tante Juliane bereit für die Abreise zu einer alten Freundin nach Frankfurt am Main.
»Es scheint mir sicherer zu sein in dieser Richtung«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Du wirst es deinen Eltern erklären.«
Christoph nickte. »Ich schreibe ihnen.«
»Du bleibst hier?«
»Mein Platz ist hier.« Er lächelte seine Tante schief an. »Einer muss doch dafür sorgen, dass nicht zu viele Fehler gemacht werden.«
Juliane nickte nur.
Obwohl weiterhin Soldaten einquartiert waren, obwohl er sich hin und wieder mit Joseph Chevillon zum Schach traf, kam Christoph das Haus nach Onkel Hubertus’ Tod und Tante Julianes Abreise leer vor. Er hätte viel darum gegeben, wieder mit Hubertus streiten zu dürfen.
Unterdessen rückten die Koalitionstruppen näher. Die Franzosen gaben Bingen, Worms und Kreuznach auf und räumten das Gebiet zwischen Nahe und
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