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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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sich doch für mich voraussichtlich um Sein oder Nichtsein; und deshalb hütete ich mich wohl, mein teures Faustpfand so leichten Kaufs aus der Hand zu geben. Mit vieler Gewandtheit, wie ich sie mir selbst nicht zugetraut hätte, wußte ich seinen nach mir geführten Streichen auszuweichen, so daß solche mich entweder gar nicht oder doch nur leicht berührten. Da er sich nun überzeugt haben mochte, daß seine allerdings sehr handgreiflichen Demonstrationen nicht genügten, um mich zu beseitigen, versuchte er es zuerst mit einer Anzahl Flüchen, und als auch diese nicht halfen, legte er sich auf das Bitten. Mit der sanftesten Stimme, wie er solchein seiner gewiß großen Aufregung nur immer moderieren konnte, richtete er die Worte an mich: › Monsieur, je vous conjure, lâchez-moi donc; car sans cela nous serons perdus tous les deux! « (Mein Herr, ich beschwöre Sie, lassen Sie mich los, denn ohne das sind wir beide verloren!) Ich aber dachte vielleicht bei diesen Worten: ›Soll es mein letzter Lebensgang sein, so habe ich auf demselben doch eine ehrenhafte Begleitung!‹
    So kam ich nun allerdings, von vorne halb gezogen, von rückwärts geschoben, meinem Ziele langsam näher; aber auch das Gedränge steigerte sich von Minute zu Minute in einem solchen Grade, daß ich trotz der Hilfe meines kräftigen Vorspanns vollkommen daran verzweifelte, die Brücke lebendig zu erreichen. Dazu kam noch, daß ich durch die Strömung, welche das Gedränge nahm, immer näher an den Fluß hingedrückt wurde. In dieser kritischen Lage sah ich von mehreren meiner Leidensgefährten ein Experiment üben, das allerdings ebenso unangenehm war, als es gefährlich werden konnte, aber dennoch ihre Rettung immer noch wahrscheinlicher machte, als wenn sie es versuchten, mit diesem Klumpen durch Angst und Schrecken zum halben Wahnsinnn gesteigerter Unglücklicher, bei welchen in jenen Momenten Mord und Totschlag an der Tagesordnung war, die Brücke lebendig erreichen zu wollen.
    Hart an den Fluß gedrängt, sah ich nämlich mehrere meiner Nachbarn, wohl daran verzweifelnd, die Brücke zu Lande zu erreichen, solches zu Wasser versuchen, indem sie das flache Ufer verließen und freiwillig in die Flut schritten, welche hier, so nahe am Lande, nachdem das Eis gebrochen war, nur etwa zwei Schuh (etwa 60 cm) tief sein mochte. Mein Kürassier, nun immer mehr gehindert, vorwärts Boden zu gewinnen, fluchte, tobte und schlug in seiner Aufregung immer heftiger gegen mich, und ich sah deshalb voraus, daß ich durch ihn und mit ihm die Brücke nicht erreichen werde. Hier galt es einen raschen Entschluß, der denn auch, da ich keine Wahlhatte, bald gefaßt war. Ich entließ ihn aus meinen Händen, den mir bis jetzt ebenso nützlich als auch teuer gewordenen blauen Mantelkragen. Ein kühner Schritt, und ich befand mich bei etwa 20 Grad Kälte bis über das Knie in der Beresina. Ein arg kaltes Bad war es, und heute noch friert es mich an meinem Ofen, wenn ich daran zurückdenke!
    So watete ich nun in zahlreicher Gesellschaft, denn immer mehr wählten nunmehr diesen Weg zu ihrer Rettung, so nahe wie möglich dem Lande fort, der Brücke zu, welche ich bald glücklich erreichte und leicht erkletterte, indem sie wegen der flachen Ufer des Flusses nur etwa zwei Schuh hoch über das Niveau desselben geschlagen war. Wie erstaunte ich, als ich sie, wohl infolge der Pallaschhiebe jener vorerwähnten Gendarmen, verhältnismäßig leer fand, so daß ich mit aller Bequemlichkeit hinüberschreiten konnte. Ich war also nun der Gefahr enthoben, in der Beresina zu ertrinken oder an deren Ufer erdrückt oder zertreten zu werden! Sage man, was man wolle – ein eigenes Gefühl ist es doch, die Pforte des Jenseits so nahe vor uns weit geöffnet, aber unerwartet sich wieder schließen zu sehn, bevor wir ihre Schwelle überschritten!
    Mit triefenden Pantalons, die bald zu einer Eiskruste froren und dadurch meine Haut verletzten, erreichte ich das jenseitige Ufer des Flusses. Mit einem Gefühl der Genugtuung über meine Rettung – bleibt doch der Mensch überall mehr oder minder Egoist! – warf ich einen Blick zurück auf das drüben immer noch fortdauernde jammervolle Gewühl, vernahm ich von dorther das Angstgeschrei der Unglücklichen, welche nach dem Vorrücken der russischen Geschütze durch deren Feuer immer mehr bedroht wurden. Verirrte sich doch bereits eine Kugel derselben auf das diesseitige Ufer und schlug wenige Schritte von mir in die Erde. Wie unbedeutend war

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