Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
immer näher. Die Kugeln schlugen nun immer dichter in die verzweifelte Masse, und in den hallenden Donner des Geschützes mischte sich das Wehegeschrei Halbzerschmetterter, der Angstruf der in dem Strom Versinkenden und das Toben und Fluchen derer, die mit verzweifelter Gewalt vorwärts zu dringen suchten.
Am fürchterlichsten sättigte sich das Entsetzen vor und auf den Brücken selbst. Rettung und Verderben liefen hier auf dem schmalsten Pfade nebeneinander her. Der Fuß trat nicht auf Leichen, sondern auf Lebende, die sich, halb zerstampft, in wilden Zuckungen wälzten.
Manche, die schon lagen und sich nicht mehr aufzurichten vermochten, bissen sich in der Todesangst mit grimmigem Zahn in die Kleider oder Füße der auf ihnen Stehenden ein, bis ein Kolbenschlag oder ein das Angesicht zerreißender Fußtritt sie betäubend vollends niederwarf. Von beiden Seiten der Brücken verschlang der brausende Strom gierig seine Opfer, und Tausende wurden seine Beute, die erbarmungslos in seinen Abgrund gestürzt wurden.
Ein entmenschter Kampf entbrannte auf diesen Stellen. Der Kamerad wollte sich Bahn brechen durch den Untergang des Kameraden; schonungslos stürzte er ihn über den Rand der Brücke, wenn er ihn im Weiterkommen hinderte. Die aufsolche Weise Hinabgestürzten klammerten sich im Fallen noch an die nächsten an, um sie mit sich in den Abgrund zu reißen oder von ihnen Rettung zu hoffen. Diese setzten sich aber zur Wehr, und mit dem Säbel oder mit dem Bajonett erhielten sie den tödlichen Hieb oder Stich, der die angstvolle Umklammerung der Verzweifelnden löste und sie blutend in die Fluten stürzte.
Wie sehr aber Plünderungssucht den rohen Haufen, der, von allen diesen schreckenvollen Szenen umgeben, nur Tod oder Gefangenschaft vor sich erblickte, noch beseelte, war ich Augenzeuge. Unter dem dichtesten Kugelregen stürzten sich ganze Haufen auf die entspannten Geld- und Bagagewagen und schlugen sich noch mit Erbitterung um den Besitz von Geldrollen oder wertvollen Uniformstücken.
Die feindlichen Massen rückten nun immer näher, und ihre Geschosse wüteten immer verheerender. Die Hintersten der gegen die Brücken drängenden Masse stachen die Kosaken schon nieder oder führten sie gefangen weg.
In diesem Chaos von grenzenloser Verwirrung und Jammer drängte ich mich mit meinen beiden Leidensgefährten, dicht aneinandergeschlossen, der einen der Brücken zu. Aber kaum einige hundert Schritte auf solche Weise vorwärts gedrungen, trennte uns der fürchterliche Druck der Menge, und keiner sah den andern wieder. Auf jede Gefahr hin arbeitete ich mich vorwärts, entschlossen, umzukommen oder die Brücke zu erklimmen, denn man mußte über Hügel von Leichen aufwärts steigen.
Schon der Brücke ganz nahe, sah ich eine in einen kostbaren Pelz gekleidete Dame mit zwei Kindern zur Seite aus ihrem Wagen springen, als eben eine springende Granate die Pferde vor demselben getötet hatte. Laut jammernd sah sie sich nach Hilfe um; meine Augen folgten ihr. Aber nicht eine Minute, so sah ich sie nicht mehr, denn sie wurde wahrscheinlich mit den armen Kleinen zu Boden gedrückt und hatte mit denselben das schreckliche Los, zertreten zu werden.
Die junge und schöne Witwe eines französischen Obersten, der einige Tage zuvor in den Gefechten bei Borisow getötet wurde, hielt sich in demselben Momente unweit der Brücke auf. Gleichgültig gegen alles, was um sie herumtobte, hatte sie nur Aufmerksamkeit für ihre Tochter von ungefähr vier Jahren, welche sie vor sich auf dem Pferde in den Armen hielt. Alle Versuche, die Brücke zu erreichen, waren vergebens. Die Verzweiflung schien ihr ganzes Wesen zu erfüllen. Sie weinte nicht; starr waren ihre Augen bald zum Himmel, bald auf ihre Tochter gerichtet. Einmal sprach sie: ›O Gott, wie bin ich so grenzenlos unglücklich, daß ich nicht einmal beten kann!‹ Gleich darauf stürzte ihr Pferd, von einer Kugel getroffen. Eine andere zerschmetterte ihr den Schenkel über dem Knie. Mit der anscheinenden Ruhe stiller Verzweiflung nahm sie ihr weinendes Kind, küßte es öfters, löste das blutige Strumpfband vom zerschmetterten Bein und erdrosselte das Kind. Hierauf schloß sie das gemordete Kind in die Arme, drückte es fest an sich, legte sich neben ihr gefallenes Pferd und erwartete so, ohne einen Laut hören zu lassen, den Tod. Nach wenigen Minuten war sie von den Hufen der andrängenden Pferde zertreten.
Fast in demselben Augenblick wurde meinem treuen Fuchse ein Vorderfuß
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