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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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sich außerdem ein Sumpf, in welchem viele Pferde und Fuhrwerke steckenblieben, was das Weiterkommen abermals hinderte und aufhielt. Da erhob sich unter dieser auf einem einzigen schmalen Rettungsstege angehäuften Kolonne von Verzweifelten ein wahrhaft dämonischer Kampf, bei welchem die Schwächsten sowie die an den gefährlichsten Stellen der Brücke sich Befindenden von den Stärksten in den Strom hinabgestürzt wurden. Ohne sich umzuschauen, drangen dann, von dem mächtigen Triebe der Selbsterhaltung gespornt, die letzteren wutentbrannt nach ihrem Ziele vor und blieben taub gegen die fürchterlichen Verwünschungen ihrer Kampfgenossen und Vorgesetzten, die sie ihrer Rettung zum Opfer gebracht hatten.«
    Ségurs Bericht wird von allen Augenzeugen bis ins Detail bestätigt. Es sollen hier die Erlebnisse von Soldaten folgen, die schon in den früheren Kapiteln mehrfach zu Wort gekommen sind, um ein Bild davon zu geben, wie unmittelbar für jeden, der die Beresina überquerte, Tod und Leben benachbart waren.
    Leutnant Wilhelm von Koenig (27. November): »Auf der einen Seit ein Laibchen Brot, auf der anderen ein Stück rohes Fleisch in meinem über das Pferd hängenden Habersack, arbeitete ich mich mit meinem Rappen in die aus allen Waffengattungen bestehende Masse ein, war aber bald schon so im Gedränge, daß ich mich nicht mehr rühren konnte. Mein Rappe, durch den unwiderstehlichen Druck von allen Seitenin Verzweiflung gebracht, suchte hinauszuschlagen, sowie er nur einigermaßen Luft dazu bekam. Die hinter mir sich Befindenden drohten mir daher, mich herunterzustechen, was ich, den Säbel in der Hand, beantwortete. Es handelte sich in diesem furchtbaren Drängen, dem man bei rein unmöglichem Widerstande willenlos preisgegeben war, buchstäblich um Leben und Tod. Auf meiner rechten Seite wurden einige unter jammervollstem Wehklagen zu Tode gedrückt, und links von mir in nicht großer Entfernung brannte ein Haus in lichten Flammen, welche die an dieses Gedrängten unrettbar verzehrten. Glücklicherweise entging ich dieser Gefahr des Verbrennens dadurch, daß das Drängen von hinten stärker als dasjenige von der rechten Seite war, und ich so nach und nach vorwärts geschoben wurde.
    Nach einigen wirklich peinvollen Stunden war ich der Brücke so nahe gekommen, daß ich dieselbe auf 25 oder 30 Schritte Entfernung im Gesichte hatte, jedoch stets von allen Seiten so eingezwängt, daß ich mich nicht rühren konnte. Unmittelbar vor mir saßen ein paar Soldaten auf russischen Ponies, die lange über das natürlich auch unwillkürliche Drücken meines Rappens schimpften. Wie es kam, weiß ich nicht – und zwar nicht, weil ich es wegen der indessen verflossenen 49 Jahre vergessen hätte, denn diese schauerlichen Stunden meines Lebens haben sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt –, sondern weil ich zu aufgeregt der steten Lebensgefahr wegen war, um nach allen Seiten beobachten zu können. Auf einmal stürzten die Soldaten mit ihren Ponies, und mein Rappe, der dadurch vor sich keinen Widerstand mehr hatte, sprang in der Verzweiflung über das stundenlange Drücken auf diese hinauf und stieg. Überschlug er sich, so war es aus mit uns beiden. Ich hatte in diesem gefährlichsten Momente meines Lebens meine Seele Gott befohlen, als er sich drehte, auf die Vorderfüße herabließ und hinausschlug, bis er, was übrigens selbstverständlich nur Sache einiger Augenblicke war, sich frei fühlte.
    So rettete mir dieses unvergleichliche Tier das Leben. Denn nun stand er vor der Brücke. Ich sprang von ihm herab, weil man diese (damals noch) nicht zu Pferd passieren durfte, und ein Gendarm, der meines Pelzes wegen meine Epauletten nicht sehen, mich also nicht als Offizier erkennen konnte, faßte mich an diesem und sagte: Allons! passez!
    Er hätte das nicht nötig gehabt, ich nahm es ihm aber nicht im mindesten übel und marschierte, meinen lieben Rappen am Zügel führend, über die Brücke, Gott für meine Rettung aus diesen Todesnöten dankend. Einige meiner Kameraden waren schon vor mir hinübergekommen, und der Verabredung gemäß stund einer an der Brücke, um den anderen die Stelle, wo wir uns aufhielten, zu zeigen. Diese war seitwärts nicht weit von der Brücke. Hier band ich meinen Rappen an einen Baum und machte die Entdeckung, daß mir mein Laibchen Brot aus dem Habersacke herausgedrückt worden war. Das Fleisch hatte ich noch. Ich löste nun den Kameraden an der Brücke ab und mochte da eine Stunde Wache gestanden

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