Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
sprühenden Fluß benutzt werden, aber Roß und Mann lagen von Müdigkeit überwältigt in sorglosem Schlafe und schienen ihr Heil nur in der Ruhe, im augenblicklichen Stillstand der Gefahr, der Not und der Leiden zu finden. Es herrschte eine grausige Stille.
Die Rückerinnerung an die schauervollen Szenen des verlebten Tages im Drange des Übergangs über die Brücken, ein Blick auf die Tausende, von denen die Biwaks strotzten, woraus bei erwachtem Tage wieder aller Schritte nach dem Ort gelenkt würden, an welchen Rettung geknüpft, das Ringen mit allen Widerwärtigkeiten zwischen dem Not- und Jammergeschrei, überhaupt die tausenderlei Drangsale und Gefährlichkeiten, vermehrt vielleicht durch eine Annäherung des bis daher gänzlich passiv gebliebenen Feindes – alles das schwebte so klar und ergreifend mir vor, daß ich nicht abließ, bis auch meine drei Gefährten, die gleichfalls den Tag erst wollten abwarten, dafür gewonnen waren, jetzt, als einem günstigen Augenblicke, miteinander den ominösen Fluß zu überschreiten.
Ohne darum länger anzustehen, denn es war 1 Uhr in der Nacht von Freitag zum Sonnabend, dem 27./28. November, brachen wir auf und stiegen rasch hinab, stracks der bewußten Brücke zu. Wie freudig überrascht aber waren wir, hier niemand vorzufinden, der den Fluß passierte, wie erstaunt aber auch, keinen einzigen Mann als Wacht aufgestellt zu sehen!
Über einen Wall von Trümmern und Leichen den Weg uns zur Brücke gebahnt, deren Hanfbedeckung, wie sich herausstellte, dem Gehen eben nicht sehr förderlich war, zählte ich sinnend meine Schritte, und deren 300 hinterlegt, sahen wir uns – o seliges Entzücken! glücklich und sonder Gefährde auf dem heißersehnten rechten Ufer vom Fluß.«
Am Morgen des 29. November begann die russische Artillerie wahllos in die Masse der Nachzügler zu schießen undlöste damit eine Panik aus. Leutnant Karl von Kurz: »Der Augenblick schien gekommen zu sein, wo das auf uns lastende böse Geschick alles der Vernichtung zu weihen schien und was noch diesseits der Brücken atmete, zu zermalmen drohte. Entsetzt stoben die Massen auseinander, wenn eine alles zerschmetternde Granate sie traf und immer viele tötete und verwundete. Man hatte aber nicht Zeit, sich zu besinnen und diesen neuen Schrecken zu ermessen, denn es folgte augenblicklich eine zweite volle Lage der feindlichen Geschütze, die nie fehlen konnten und eine fürchterliche Verheerung in dieser wehrlosen, gedrängten Menschenmasse anrichteten.
Das Entsetzen gebar oft in solchen fürchterlichen Momenten eine bange Totenstille; selbst die Sprache versagte. Aber ein neuer alles zerschmetternder Strom von Kugeln zerriß sie um so furchtbarer, und die Angst machte sich in heulender Wehklage Luft.
Nun überstürzte sich alles in blinder wahnsinniger Flucht, gleichviel wohin, wenn man nur diesen Tod und Verstümmelung sendenden Geschossen entgehen konnte. Reiter stürzten sich in den Strom und suchten ihn trotz der Eisschollen zu durchschwimmen; die meisten wurden aber nach wenigen Schritten von den brausenden Wellen verschlungen. Pferde, die noch nicht an den Wagen niedergeschmettert waren, hieb man die Stränge ab, schwang sich hinauf und wollte sich so gleichfalls schwimmend retten, ohne der unglücklichen Verwundeten und Kranken zu achten, die nun ganz hilflos auf den Wagen zurückgelassen waren. Aber schon nach wenigen Minuten folgte der Lohn auf ihre Tat, und die Nemesis ereilte sie mitten in den Fluten.
Die Massen wogten jetzt so gewaltsam gegen die Ufer des Stroms heran, daß sie nicht allein gegen die Brücken, sondern gerade in den Strom drängten. Vergebens drängten die Vordersten gegen die anwogenden Massen zurück; sie wurden von den hohen Ufern zu Hunderten hinabgestürzt in die Wellen, wie gestern und heute Tausende von dem Rand derBrücken in den Strom gestürzt wurden. Mütter und Säuglinge sah man in den Haufen dieser Unglücklichen; vergeblich tönte ihr Ruf nach Hilfe, nach dem Gatten, der soeben ihnen hilfeleistend noch zur Seite gewesen, aber verschwunden und in diesem Augenblick von der Flut verschlungen war.
So sah man eine Mutter, die mit vielen andern auf das Eis gedrängt wurde; dieses riß sich los, und auf einem Eisstück schwimmend, wurde sie fortgetrieben. Hoch hielt sie ihren Säugling empor und schrie fürchterlich, daß man ihr zu Hilfe kommen solle.
Indessen dauerte das mörderische Feuer der Russen fort; zusehends wurden die Batterien vermehrt und rückten
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