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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Schikanen und Demütigungen, die Wilnas Juden von der Besatzung der Stadt angetan worden waren? Das scheint wenig glaubhaft, denn die Juden wurden von den Russen tagtäglich in weit ärgerer Weise drangsaliert und oft auch Opfer von Pogromen. Im allgemeinen waren sie mit Napoleons Soldaten gut ausgekommen, mit denen sich ausgezeichnete Geschäfte machen ließen. Wahrscheinlich ist, daß sich die Wilnaer Juden durch ihr Massaker dem einrückenden russischen Militär als loyale russische Staatsbürger empfehlen wollten. Besonders grauenhaft war das Schicksal der in den 15 Lazaretten Wilnas zu Tausenden untergebrachten Verwundeten und Kranken. So zahlreich Spitäler anzulegen war schon bei Kriegsbeginn erforderlich geworden, als die Zahl der vor allem an Ruhr Erkrankten sich sprunghaft erhöht hatte. Aber das französische Sanitätswesen erwies sich auf eine so große Zahl Infizierter nicht vorbereitet, und entsprechend hoch war die Sterberate in den unzureichend organisierten Lazaretten. Nach einem Bericht des württembergischen Generalarztes Schuntter an König Friedrich I. waren allein in Wilna von Juli bis Oktober 18 000 Soldaten aller Nationen gestorben. Wie viele Kranke und Verwundete in den Hospitälern lagen, als die Russen die Stadt besetzten, ist nicht bekannt, wohl aber, welches Schicksal sie erwartete.
    Die eindringlichste Schilderung verdanken wir dem württembergischen Oberleutnant von Yelin, der selber mit Erfrierungenan den Füßen in eines der beiden württembergischen Spitäler eingeliefert worden war, in denen sich jeweils 600 bis 700 Soldaten befanden. Yelin hatte das Glück, in dem innerstädtischen Spital beim Höhentor einen Platz gefunden zu haben, denn die Verwundeten im zweiten, vor den Toren gelegenen Lazarett wurden am 10. Dezember alle von den Kosaken abgeschlachtet. Neben Yelin waren noch 56 weitere württembergische Offiziere in drei Räumen untergebracht:
    »Die Fenster waren dick mit Eis überzogen und die fehlenden Scheiben mit Lumpen verstopft, wenig Feuer in den Öfen bei einer Kälte von 22–24 Grad (damals immer in Reaumur angegeben, 24 Grad = 30 Grad Celsius) , so daß das Wasser auf den Tischen zu Eis wurde. Keine Lagerstätten, nicht einmal Stroh, lagen wir, in elende Tuchteppiche gewickelt, Mann an Mann auf dem bloßen Boden in der größten Angst, der Feind möchte unser Asyl entdecken und uns ebenfalls mißhandeln, da wir den ununterbrochenen Ein- und Durchzug der Russen durch das Pfeifen und Knarren der Räder, das Lärmen der Truppen und das herzzerreißende Geschrei der Unglücklichen, die von den Einwohnern und Juden der Stadt geplündert und nun aus den Häusern gestoßen wurden, wo sie vorher Schutz gefunden hatten, deutlich vernahmen.
    In solchem angstvollen Zustande brachten wir den Tag und die Nacht hin, ohne Nahrung und bei einem kaum auszuhaltenden beständigen Frieren und Schnattern, als am zweiten Tag entsetzlich an das Hoftor gestoßen und es endlich aufgesprengt wurde. Die Unmenschen drangen zu uns herein und verbreiteten sich im ganzen Haus. Wir gaben ihnen alles, was wir hatten, und flehten auf den Knien um Mitleid, aber alles umsonst – Schelma Franzuski – war ihr Ausruf. Dabei schlugen sie uns mit Kantschuen, stießen uns mit den Füßen unbarmherzig, und da der Andrang von andern solchen Unmenschen sich immer wieder erneuerte, so kam es zuletzt so weit, daß sie nicht nur uns der Kleider bis auf die Hemden und der Teppiche beraubten, sondern auch, da wir nichtsmehr hatten, wie die Hunde prügelten, sogar den armen Verwundeten ihre Verbände unbarmherzig abrissen und sie durchsuchten, ob nicht da noch etwas verborgen sei, wodurch namentlich der Leutnant Kuhn, dem eine Kugel bei Moshaisk ein Stück aus der Hirnschale wegnahm, wie tot umfiel und erst nach langem Bemühen wieder ins Leben gebracht werden konnte.
    Dieser schreckliche Zustand dauerte drei Tage und beinahe die halben Nächte, viele der Gefangenen verfielen in Wahnsinn, rasten herum, bis ihre Kräfte aufhörten und sie endlich im dumpfen, starren Hinbrüten starben, wie überhaupt mehrere in dieser Schreckenszeit und einige Tage nachher verschieden sind.«
    Herzog Alexander von Württemberg, der jüngste Bruder des württembergischen Königs und schon länger in russischen Diensten, versprach seinen Landsleuten Schutz und stellte sofort 1000 Rubel zur Verfügung. Doch dieser Schutz galt nur für die Württemberger. Wie es den französischen Lazaretten erging, erlebte Leutnant Karl von

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