Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Suckow, denn aus Stuttgart war die fällige Löhnung eingetroffen, die jetzt ausbezahlt wurde. Mit diesem Geld besorgte sich der Leutnant neue Schuhe, eine Pelzmütze und Pelzhandschuhe. Treffpunkt der württembergischen Offiziere war das von einem Juden geführte Lichtensteins Kaffeehaus. Hier wurde gewürfelt, Billard gespielt, man ließ sich rasieren, wechselte vor aller Augen die Wäsche, vor allem aber kümmerten sich der beflissene Cafetier und sein Personal um reichlich Essen und Trinken. Wegen der empfangenen Löhnung saß das Geld locker, der Umsatz war für den Inhaber bedeutend. Karl von Suckow fand einen Schlafplatz unter dem Billardtisch. »Mein sanfter Schlaf sollte jedoch schon in der frühesten Morgenstunde sehr unsanft unterbrochen werden. Ein Fußtritt entriß mich den Armen Morpheus’. Herr Lichtenstein nämlich, der bei meinem Erwachen mit grimmiger Gebärde vor mir stand, hatte mir denselben freundlichst gewidmet, jener Cafetier, der (…) während weniger Tage so viele Silberrubel durch uns gewann, welche er stets mit den kriechendsten Verbeugungen, den demütigsten Redensarten in Empfang nahm. ›Stehe auf, du deutscher Hund!‹, schrie er mir zu, ›und mache, daß du hinauskommst! Deine Kameraden sind alle davongelaufen und werden wohl jetzt schon draußen auf der Straße von den Kosaken gehörig in Empfang genommen worden sein!‹ Leider mußte ich mich bald überzeugen, daß mein zudringlicher Duzbruder die reine Wahrheit gesagt hatte. Der Saal war wüst und leer, und von der noch ganz finsteren Straße her hörte ich französische und deutsche Klagerufe abwechselnd mit russischen Kosakenflüchen ertönen. Was war also nun zu machen? Hierbleiben konnte ich nicht, mußte also hinaus, um höchstwahrscheinlich die sehr fatale Bekanntschaft jener russischen Herren Lanzenreiter zu machen, deren Anwesenheit in Wilna leider nicht mehr zu bezweifeln war. Hatten sie die Stadtnächtlich überfallen, oder waren die ihnen entgegengesendeten Truppen nicht genügend gewesen, um sie zurückzuwerfen?‹ Ich weiß es nicht! – Ich erhob mich von meinem harten Lager und war einige Augenblicke unschlüssig, ob ich nicht doch lieber im Saale bleiben solle, um dort mich gefangennehmen zu lassen, als auf die Straße hinauszugehn und so in finsterer Nacht höchstwahrscheinlich das gleiche Schicksal zu haben. Dort mochte ich aber einem recht rohen einzelnen Kosaken in die Hände fallen und sonach doch wohl größeren Mißhandlungen ausgesetzt sein, als wie ich das Eindringen mehrerer von ihnen in das Haus erwartete, was, wie vorauszusehn, der Herr Lichtenstein gewiß möglichst befördert haben würde.«
Es war das Platowsche Kosakenkorps, das unerwartet in der Frühe des 10. Dezember in Wilna eingedrungen war und mit einem Massaker begann, dem sich wie auf ein Signal Wilnas Judenschaft anschloß, um über die geschwächten Soldaten mit Messern herzufallen. »Sie taten es an Grausamkeit allen zuvor«, schreibt der bayerische Oberleutnant Friedrich von Furtenbach, dem es gelang, morgens um 8 Uhr aus Wilna zu entkommen. Die Greueltaten bestätigt auch Oberst Marcellin de Marbot: »Kaum hatten wir die Stadt im Rücken, als die Juden, welche Franzosen aufgenommen hatten, in unmenschlicher Weise über diese herfielen, ihnen nahmen, was sie besaßen, sie selbst aller ihrer Kleider beraubten und alsdann nackt aus den Fenstern stürzten.«
Leutnant Karl von Kurz ergänzt diese Aussage: »Die Häuser der Israeliten, welche fast durchaus Handelsleute oder Wirte waren, waren meist von höheren Offizieren überfüllt. Viele derselben boten den Offizieren und Soldaten, bei welchen ihr habsüchtiger Scharfblick viel Geld vermutete, meist gegen scheinbar akkordierte (vereinbarte) Belohnung, Schutz ihrer Personen und ihres Eigentums in ihren Wohnungen an, überhäuften sie mit geistigen Getränken oder mischten auch ihrem Zweck förderliche Schlafmittel darunter, die diese,keine Hinterlist ahnend, nach so langer Entbehrung meistens im Übermaß genossen und entkräftet sich der Ruhe überließen und in tiefen Schlaf fielen. – Aber viele dieses Abschaums von Abrahams Geschlecht, die den Kosaken an Habsucht und Grausamkeit nichts nachgaben, ja, sie noch übertrafen, mordeten ihre Schützlinge im Schlaf meuchlerisch und warfen sie am Morgen des 10. Dezember (in dem allgemeinen Tumult und Morden) in die Straßen zu den von den Kosaken Niedergestochenen.«
Das Motiv für diesen Exzeß läßt sich nur vermuten. War es Rache für
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