Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Kurz:
»Mehrere Tage hindurch wurden durch Kosaken und Juden in ihnen die größten Greuel verübt. Nicht zufrieden, die Wehrlosen bis aufs Hemd zu berauben und grausam zu mißhandeln, stürzten sie viele, wenn sie nichts mehr fanden, in ihrer unmenschlichen Wut aus den Fenstern der oberen Stockwerke herab. In den geräumigen Höfen dieser Klöster lagen sie in großer Anzahl zerschmettert auf dem Boden. Die Kameraden, die den Mißhandlungen nicht erlagen, waren dem Hunger und der Kälte preisgegeben, deren Opfer sie in wenigen Tagen wurden. Bis zur Ankunft des Herzogs Alexander von Württemberg erhielten sie (fünf Tage lang) weder die mindeste Nahrung, noch wurde ihnen von seiten der Behörde Holz gereicht. Alle Korridore, Säle und Zimmer dieser größeren Klöster, deren eines mehrere tausend Menschen fassen konnte, lagen voller Toter und Sterbender, die in der Hungerswut ihre toten Kameraden benagten.
Unbeschreiblich war das Elend der armen Gefangenen in den Tagen des 11.–15. Dezember, in welchen durch die Waffen des Feindes, durch Mißhandlungen aller Art, durch Kälte und Hunger mehr als 1000 Offiziere und 12 000 Gemeine aller Nationen zugrunde gingen. Die Juden Wilnas rühmten sich später, allein mehrere tausend gemordet zu haben!«
Kranke, die noch gehen konnten, versuchten in Wilna etwas Nahrung zu besorgen, aber sie wurden von Kosaken aufgegriffen und unter Bewachung so lange eingesperrt, bis sie verhungert waren. Man verweigerte ihnen sogar Wasser. Ein Feldwebel berichtete Oberleutnant von Yelin, die Eingesperrten hätten sich schließlich »von dem rohen Fleisch ihrer toten Kameraden« ernährt. Als Yelin das nicht glauben wollte, führte ihn der Feldwebel »auf einen Platz, woselbst die Toten alle noch herumlagen«, und zeigte ihm »die abgenagten Stellen an Armen und Füßen«.
Die Verhältnisse besserten sich erst, als Zar Alexander mit seinem Bruder, dem Großfürsten Konstantin, am 23. Dezember in Wilna eintraf. Inzwischen hatte leichtes Tauwetter eingesetzt, und General Sir Robert Wilson besichtigte die Lazarette, darunter das St. Basilius-Kloster: »Das St. Basilius-Hospital bot den schrecklichsten und scheußlichsten Anblick dar: 7500 Leichen waren in den Gängen wie Bleimulden übereinandergeschichtet; auch in allen anderen Räumen lagen solche herum, und die zerbrochenen Fenster und die Löcher in den Mauern waren mit Füßen, Beinen, Armen, Händen, Rümpfen und Köpfen, wie sie in die Öffnungen paßten, zugestopft, um die kalte Luft von den noch Lebenden fernzuhalten. – Das Faulen des tauenden Fleisches, wo die Teile sich berührten und der Prozeß der Zersetzung vor sich ging, verbreitete ringsum einen leichenhaften Gestank. – Trotzdem waren in jedem dieser pesthauchenden und eiskalten Räume drei oder vier Gardegrenadiere aufgestellt und mußten die tödliche Luft einatmen. – Als der englische General (Wilson spricht von sich in der dritten Person) den Kaiser auf dieseunüberlegte ›Verwendung seiner schönsten Truppen‹ aufmerksam machte, begab er sich selbst ins Kloster, um die Krankenräume zu besichtigen. Dort sprach er den unglücklichen Inwohnern freundlich zu und gab die erforderlichen Anweisungen zu ihrer Behandlung.«
Doch nun brach eine Typhus- und Fleckfieberepidemie aus, die nicht nur große Opfer in den Lazaretten forderte, sondern auch unter den Einwohnern Wilnas. Von den nach dem 10. Dezember eingelieferten 18 000 russischen Erkrankten und Verwundeten starben 8000. Von den Toten wurde ein Teil verbrannt, andere unter das Eis der Wilnia versenkt und mehrere tausend in Massengräbern verscharrt.
Oberleutnant von Yelin: »Vieles Elend war zwar überstanden, allein nun folgten neue Schreckensszenen. Der größte Teil der Kranken hatte auf dem schauervollen Rückzug Finger, Zehen, Hände, Füße etc. erfroren, die nun vom Brand schon angesteckt waren. Man mußte ihnen daher ein erfrorenes Glied um das andere ablösen, welche Operation natürlicherweise die fürchterlichsten Schmerzen verursachte. Wenn die Stunde der ärztlichen Visitation kam, war auf allen Gesichtern nur Schrecken zu lesen, und das kläglichste Jammern wurde angestimmt, daß es einem durch Mark und Bein drang. Nach jedem Besuche der Ärzte wurden die abgeschnittenen, vom Brand ganz schwarz gewordenen Glieder zusammengekehrt und schnell weggeschafft. (…)
Ich lag mit geschwollenen Füßen unter diesen nervenfieberkranken (Nervenfieber = Typhus) Menschen, von denen Tag und Nacht starben, und
Weitere Kostenlose Bücher