Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
den Abzug der letzten Reste der Grande Armée über die russische Grenze schützten, und im Gegensatz zu ihr besaß jeder dieser Soldaten noch sein Gewehr und wußte es zu gebrauchen.
20. DIE PREISGEGEBENE ARMEE
Es gab nichts mehr, was die Bezeichnung »Armeekorps« verdient hätte, es gab nur noch Versprengte, Unterernährte und Halberfrorene. In der Frühe des 11. Dezember hatte sich dem Feldwebel Dornheim auf dem Marktplatz von Kowno ein sonderbares Bild geboten: »Bei Tagesanbruch sprengte der Prinz Eugène de Beauharnais, Vizekönig von Italien, ein großer stattlicher Mann, auf den Marktplatz und rief, indem er nach allen Seiten umherblickte, mit einer Stimme, welche die Fenster in den Häusern erzittern machte: ›Quatrième corps d’armée par ici! ‹ (Viertes Armeekorps hierher!) – Freudig überrascht, bald eine ansehnliche bewaffnete Macht zu unserer Unterstützung herbeieilen zu sehen, machten wir es ebenso wie der Prinz und blickten neugierig rück- und vorwärts, wo die mit einer solchenDonnerstimme angekündigten Leute wohl herkommen würden. Es kam aber außer 10–15 ausgehungerten Infanteristen und Kavalleristen ohne Pferde, mit welchen der Prinz stracks aus dem Tore auf die Straße nach Gumbinnen eilte, keine Seele vom 4. Armeekorps zum Vorschein.«
So war es. Kämpfen wollte niemand mehr. Der lippische Hauptmann Christian Jakob Barkhausen, der sich, 25 Jahre alt, mit einer Handvoll Soldaten am Wilnaer Tor von Kowno geopfert hatte, um den Rückzug der Kameraden zu decken, war eine Ausnahme. Selbst dem furchtlosen Marschall Ney, der als einer der letzten Kowno verließ, war außer seinem Adjutanten niemand geblieben, der hätte kämpfen können oder wollen. Schon gar nicht der von Napoleon ernannte neue Oberbefehlshaber Joachim Murat. »König Franconi«, dessen papageienhafte Erscheinung Freund und Feind erheitert hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen. Seine Soldaten bekamen ihn nur noch selten zu sehen. Von Kopf bis Fuß eingehüllt in kostbares Pelzwerk, hatte er in Wilna mürrisch und untätig in einem abgelegenen Quartier gesessen und sich mit den noch verbliebenen Marschällen und Generalen beraten und keine Entscheidungen gefällt. Seine mißlaunige Bemerkung, er werde sich in diesem pot de chambre (mit dem »Nachttopf« war Wilna gemeint) nicht fangen lassen, hinterließ keinen guten Eindruck, zumal er es nicht einmal für nötig befunden hatte, die Lazarette zu besuchen. An der Spitze einiger hundert Eskadronen, immer vorneweg in schneidiger Attacke, da war er in seinem Element und aktiv gewesen. Aber er hatte damit auch wesentlich dazu beigetragen, Napoleons Reiterei zugrunde zu richten, und nun gab es nichts mehr, womit er noch hätte attackieren können; von Planung und Organisation verstand er eben nicht viel und zeigte obendrein deutlich sein Desinteresse.
Unterdessen hatte Eugène de Beauharnais, der nie von sich Aufhebens gemacht hatte, sein nicht mehr existentes Armeekorps zusammengesucht. Mit 45 000 Soldaten (Franzosen,Kroaten, Spanier, vor allem aber Italiener) hatte er am 24. Juni die russische Grenze überschritten, mit noch knapp 20 000 bei Malojaroslawez Kutusows Übermacht besiegt, und am 11. Dezember waren ihm nur noch 10 bis 15 Soldaten geblieben, keine Kavallerie und keine einzige Kanone mehr. Der einunddreißigjährige Adoptivsohn Napoleons war kein genialer Feldherr, doch ein tüchtiger General, der mehrere Schlachten gewonnen hatte, ein solider Organisator, stets umsichtig, nie leichtsinnig, der das Vertrauen der ihm anvertrauten Soldaten besaß. Vor allem war er ein vornehmer, nobler Charakter. Undenkbar, er hätte sich wie Murat bunt herausgeputzt und schwadroniert. Napoleon, der ihn zum »Vizekönig von Italien« ernannt hatte (König war Napoleon selbst), kannte und schätzte seine Fähigkeiten, und es bleibt unbegreiflich, warum er nicht Eugène zu seinem Stellvertreter ernannt hatte statt des windigen Murat, den man vor Königsberg nur selten zu Gesicht bekam.
Feldwebel Dornheim fand nach dem Rückzug aus Kowno in Wilkowiszken wieder seine alte Unterkunft bei dem alten Rabbiner und wurde von ihm »mit wahrer Herzlichkeit« aufgenommen. »Meine Jugend und daß ich glücklich der Gefahr entronnen sei, hatten sein ganzes Interesse für mich erweckt. Nachdem ich ihm beim Abendessen unsere bisherigen Abenteuer erzählt hatte und die Zeit der Ruhe herangenahet war, führte er mich in das Hinterhaus in ein Gemach, das ich früher nie gesehen hatte. Wir
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