Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
wenn wir solche bedürften; es versteht sich jedoch, daß wir alle diese Gaben nur mit der Bedingung annahmen, ihren Betrag später von der Heimat aus vollständig zu ersetzen. Womit hätte ich aber in meiner Lage meine Dankbarkeit für alle diese Wohltaten beweisen können? Mit nichts, als dem kleinen Töchterlein einen buntgezierten Becher von Milchglas, welchen sie mit Wohlgefallen betrachtete und den ich von Moskau mitgenommen hatte, recht gerne zu überlassen, für sie freilich nur ein Spielzeug, mir aber war derselbe von großem Nutzen gewesen, wie oft hatte ich meinen Durst mit geschmolzenem Schnee daraus gestillt!«
Nach und nach fanden die Versprengten wieder zusammen. Am 18. Dezember saß der General-Intendant der Franzosen, Mathieu Graf Dumas, in Gumbinnen mit Freunden bei einem »exzellenten Kaffee«, als sich die Tür öffnete und ein Mann im braunen Mantel eintrat: »Er hatte einen langen Bart. Sein Gesicht war geschwärzt. Und er sah wie verbrannt aus. Seine Augen waren rot und funkelnd. ›Da bin ich also‹, sagte er. ›Wie, General Dumas, Sie kennen mich nicht?‹ – ›Aber nein. Wer sind Sie?‹ – ›Ich bin die Nachhut der Grande Armée . Ich bin Marschall Ney.‹« Der tapfere, körperlich wie geistig schier unverwüstliche Michel Ney war der einzige, der seine legendäre Nachhut überlebt hatte.
Am selben Tag rollte eine unscheinbare Postchaise in den Innenhof der Tuilerien zu Paris. Ihre Insassen waren Caulaincourt und Napoleon: »Gesund und munter stieg er amPortal des Mittelbaus ab«, berichtet der Marquis, »gerade in dem Augenblick, als die Turmuhr das letzte Viertel vor Mitternacht schlug. Ich hatte meinen Rock aufgeknöpft, so daß man die Stickerei meiner Uniform sehen konnte. Die Schildwachen, die uns für Offiziere mit Depeschen hielten, ließen uns durch, und wir langten am Eingang der offenen, nach dem Garten zu liegenden Galerie an. Der Schweizer, der schon im Begriff gewesen, sich zu Bett zu legen, kam im Hemd, das Licht in der Hand, um nachzusehen, wer da klopfte. Unsere Gestalten erschienen ihm so seltsam, daß er erst seine Frau rief. Ich mußte mehrmals meinen Namen nennen, um ihn zu überzeugen und zum Öffnen der Tür zu bringen. Er rieb sich die Augen, seine Frau hielt mir das Licht unter die Nase; erst mit großer Mühe erkannten sie mich. Die Frau öffnete, und er ging, um einen der diensttuenden Lakaien zu rufen. Die Kaiserin hatte sich eben erst zur Ruhe begeben. Ich ließ mich zum Zimmer ihrer Kammerfrau führen, angeblich, um ihr Nachrichten vom Kaiser zu bringen, der mir folgte; so hatten wir es verabredet. Inzwischen musterten der Schweizer und die übrigen Leute den Kaiser von Kopf bis zu den Füßen. Plötzlich schrie einer von ihnen auf: ›Es ist der Kaiser!‹ Man kann sich keinen Begriff machen von ihrer Freude. Sie konnten sich kaum halten. Die beiden Kammerfrauen, die den Dienst bei der Kaiserin hatten, kam gerade in demselben Augenblick aus ihrem Gemach, als ich ins Vorzimmer eintrat. Mein vierzehn Tage alter Bart, mein Anzug, meine Pelzstiefel machten auf sie zweifellos keinen besseren Eindruck als auf den Schweizer, denn ich mußte die guten Nachrichten, die ich angeblich vom Kaiser brachte, immer wieder herbeten, damit sie nicht vor dem Gespenst flüchteten, das sie vor sich zu sehen glaubten. Der Name des Kaisers beruhigte sie schließlich und half ihnen, mich zu erkennen. Eine von ihnen meldete mich der Kaiserin. Inzwischen machte der Kaiser, der Mühe hatte, seine Ungeduld zu verbergen, meiner Mission ein Ende, indem er bei der Kaiserin eintrat und zu mir sagte:›Gute Nacht, Caulaincourt! Sie haben auch Ihre Ruhe verdient!‹«
Mit einem solchen Empfang freilich durften Napoleons Soldaten auf ihrem Rückzug nicht rechnen, vor allem nicht, wenn sie Franzosen waren. Das bekam Sergeant François Bourgogne in Insterburg drastisch zu spüren, der mit Kameraden und einem Pferd dort einquartiert wurde: »Kurz nach unserem Eintritt erschien ein gewiß sechs Fuß in ihren Schuhen stehendes Weib mit einer echten, richtigen Kosakenfratze, die sich uns als Hausfrau vorstellte und sagte, daß, wenn wir Wünsche hätten, wir ihr Geld geben sollten, dann würde sie alles für uns holen. Das paßte uns sehr gut, denn keiner von uns empfand Neigung, selbst auszugehen. Ich gab ihr sogleich Geld für Brot, Fleisch und Bier. Nach wenigen Minuten brachte sie das, und wir baten sie nun, von dem Fleisch Suppe zu kochen. Inzwischen genossen wir das Brot und das Bier.
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