Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Brücke über den Njemen beordert. »Ein größerer Respekt, als unsern 200 Bajonetten bei Passierung der Brücke von den Franzosen zuteil wurde, mochte in den Tagen des Glücks wohl keinem ganzen Armeekorps erzeigt sein«, erinnert sich Dornheim mit spürbarem Stolz. »Von uns hofften sie Schutz und Rettung. Alles machte uns ehrerbietig Platz, soviel es der enge Raum und das ungeheure Gedränge nur irgend gestattete; die völlig desarmierten Franzosen traten geduldig zur Seite, und wer nicht ausweichen konnte, ließ sich über das Brückengeländer auf das Eis drängen. Glücklich hatten wir, ohne jedoch von unserer Macht und Gewalt häufigen Gebrauch gegen die unglücklichen Franzosen zu machen, die Brücke passiert und klimmten, um dieselben auf der Landstraße im Marschieren nicht zu hindern, sondern zu beschützen, auf einem schmalen Fußwege neben der letztern einen Bergrücken hinan. (…) Um von dem glatten Fußwege in die Tiefe nicht wieder hinabzugleiten, halfen sich unsere Soldaten mit Händen und Füßen zugleich empor und hatten sich mit den Nägeln der Finger so fest in die Schnee- und Eisrinde eingekrallt, daß das Blut unter den Nägeln hervorquoll. Gleichzeitig mit unserm Übergange über die Brücke war ein Schwarm Kosaken links von derselben, in einer Entfernung von einer Viertelstunde, über die Eisdecke der Memel gekommen und drohte uns und den Franzosen den Rückzug nach Wilkowiszken abzuschneiden; deshalb beeilten wir uns, die Anhöhe zu erreichen, um uns in Schlachtordnung aufzustellen. Die Franzosen klimmten nun ebenfalls die steile Landstraße hinan, und es bedurfte nur einiger Salvenaus unsern Gewehren auf die sich annähernden Bauern-Kosaken, um sie in gehöriger Entfernung zu halten und vorläufig von der Verfolgung der Franzosen abzuwehren. Unsere Position beherrschte, wie gesagt, die Landstraßen, welche von Kowno nach Tilsit und über Wilkowiszken nach Gumbinnen führen, und wir hatten daher weiter nichts zu tun, als unsere Kugeln über die Köpfe der Franzosen weg in die Reihen der Kosaken zu schicken, bei welcher Gelegenheit mehrere derselben fielen. Die übrigen wagten es nicht, auf Schußweite heranzunahen, sondern beschränkten sich darauf, uns aus der Entfernung zu beobachten, wodurch der Rückzug einige Stunden lang gesichert blieb und eine Menge Franzosen gerettet wurden, die, statt in Gefangenschaft zu fallen, jetzt ruhig den Weg auf befreundetem Boden nach Gumbinnen oder Tilsit fortsetzen konnten.«
Zu den letzten Franzosen, die Kowno verließen, gehörte Louis-François Lejeune, inzwischen von Napoleon zum Brigadegeneral befördert, dem wehmütige Erinnerungen an den Tag des Kriegsbeginns in Kowno kamen: »Als ich die Brücke vorsichtig in meinem Schlitten passierte, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten, wenn ich daran dachte, was ich hier am 24. Juni gesehen hatte und es nun mit dem 12. Dezember verglich. Das Gewitter und der Blitzschlag am 24. sagten das Unglück voraus, es hat uns nicht verschont. Einzig die starken Seelen konnten das überleben, und im Grunde meines Herzens dankte ich Gott, daß er mir die Konstitution geschenkt hat, diesen Schicksalsschlag zu ertragen.«
Während die Lipper auf der Straße nach Gumbinnen zurückmarschierten, konnten sie einen erneuten Angriff von Kosaken erfolgreich abwehren, unterstützt von sechs französischen Geschützen, die hinzugekommen waren. Die Kosaken, die wohl nicht mit ernsthaftem Widerstand gerechnet hatten, erlitten dabei so schwere Verluste, daß sie sich schleunigst zurückzogen und den Rückzug nicht mehr behinderten. Zurückgeblieben war eine kleine Abteilung Lipper, die unterdem Kommando ihres Hauptmanns Barkhausen eine Schanze am Ortsausgang von Kowno zur Straße nach Wilna hin so lange verteidigten, bis ihr Hauptmann, dem eine Kartätsche beide Beine zerschmettert hatte, sich mit einem Pistolenschuß in den Mund das Leben nahm. Die wenigen Überlebenden, denen der Hauptmann noch den Rückzug befohlen hatte, warfen ihre Gewehre nicht fort, sondern zogen sich mit dem gerade eintreffenden Marschall Ney zurück und erreichten ihre Kameraden auf der Straße nach Gumbinnen. Später sollte General Étienne-Maurice Gérard, der Ney begleitete, behaupten, beim ersten Angriff der Kosaken auf die Schanze seien 80 Lipper geflohen und hätten ihre Gewehre fortgeworfen. Doch das trifft nicht zu. Es waren tatsächlich nur einige hundert lippische Infanteristen, Soldaten eines der kleinsten deutschen Fürstentümer, die
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