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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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sahen mit einem geisterhaft starrenden Ausdruck aus den blassen, mit Falten durchzogenen Gesichtern heraus, als sähen sie noch alle die Greuel, die auf sie in den Eissteppen Rußlands gelauert hatten, und ihre Sprache klang hohl und rauh, als hätten die Schmerzenstöne sie heiser gemacht. Die meisten der Unglücklichen konnten ihre Körper kaum noch fortschleppen, so matt und krank waren sie. Ihre Gesichter, geschwärzt von dem Rauch der Lagerfeuer, bedeckt mit wochenlangem Straßenschmutz, zerfressen von allen möglichen Krankheiten wie dem heißen Brand und zernagt von Ungeziefer, sahen mit gespenstischem Ausdruckaus den Lumpen hervor. Und das, teuerer Vater, waren dieselben Menschen, die einst frohen Mutes, die Augen leuchtend vor Siegesglück, ausgezogen waren, um für einen Menschen, für den Kaiser, die Welt zu erobern. Es heißt jetzt, daß von den 23 000 Westphalen, die hinausgezogen waren, kaum 2000 zurückgekehrt sind. – Ist es möglich, teuerer Vater, daß ein Mensch solch eine Gewalt über die Welt besitzt, daß er so hunderttausendfaches Unglück über seine Mitmenschen bringen kann? Wird der allmächtige Gott da nicht einschreiten, um diesen einen Mann von der Stelle, an der er allmächtig sitzt, abzulösen? O mein Vater, bei dem Anblick jener Unglücklichen, wie dankte ich da Gott, daß er mich vor diesen Leiden bewahrt hatte. Wie kurzsichtig ist der Mensch oft und legt das als Unglück aus, was nachher zu seinem Glücke dient! O mein Vater, ich kann den Ausdruck dieser Menschen nicht vergessen, mit dem sie mich hülfeflehend anstierten. Einige streckten nur mühsam ihre Hände uns entgegen, sie hatten die Sprache verloren, andere waren so versenkt in ihre anhaltende Bestürzung, daß sie die Gaben nicht sahen, die wir ihnen boten. Alle schienen auf den Tod wie auf eine Wohltat zu lauern, da sie nicht mehr die Kraft in sich fühlten, die Ruhe und die Lebensmittel zu genießen. So standen sie mit zitternden Knien da und folgten mit stumpfem, blödem Blick den Bürgern, die sie, bewegt von innerstem Mitleid, bei der Hand faßten, um die Unglücklichen in ihre Häuser zu führen und sie dort zu laben. – Mein erster Gedanke bei ihrem Anblick war unser Fritz (Leutnant Fritz Wolf) . Die Hälfte des ungefähr 50 Mann starken Haufens waren Leute von westphälischen Regimentern. Ich versuchte mir Auskunft von ihnen über das Schicksal unseres Fritz zu verschaffen (gefallen am 28. November an der Beresina) , aber soviel ich auch fragte, ich erhielt nur ein blödes Lachen als Antwort, oder ein anderer hob den Arm und flüsterte halb irre: ›Tot – alles – alles – tot.‹«

21. GEFANGENSCHAFT
    Leutnant Eduard Rüppell vom 2. westphälischen Husaren-Regiment kam erst neben einer russischen Kanone allmählich wieder zu sich; verletzt durch einen heftigen Lanzenstich am Kopf, blutüberströmt, auch das Handgelenk verletzt, dazu restlos ausgeplündert und ohne Stiefel. Das war am 19. August 1812 bei Walutina inmitten von schweren Kämpfen, die zwischen den sich zurückziehenden Russen und der Grande Armée tobten. In Wjasma fand Rüppell Anschluß an einen Gefangenentransport, der aus Franzosen, Westphalen und zwei verwundeten polnischen Offizieren bestand, und sie mußten täglich etwa 30 Kilometer marschieren. Bis Moskau schlossen sich noch portugiesische und kroatische Gefangene an. Bewunderung empfand Rüppell für seine französischen Kameraden: »Ich kann übrigens nicht umhin, zuzugestehen, daß es doch immer wieder die gedienten französischen Soldaten waren, die trotz des großen Elends und täglichen Ungemachs alle übrigen durch Munterkeit und soldatische Haltung beschämten, und ich leugne nicht, daß ich, wenn mir der Mut ausgehen wollte, mir sie oft zum Vorbild nahm. Ich vergesse es nicht, wie allemal, wenn wir an den schon sehr kalten Morgen aus dem Stroh einer Scheune hervorkrochen, der größte Teil der französischen Infanteristen truppweise auf und ab ging, bis es zum Verlesen kam: das sauber gewaschene Gesicht, das gekämmte Haar, dann der blankgeputzte Tschakobeschlag sowie die reingehaltene Uniform bezeugten, welcher echte Soldatengeist diese Leute beseelte. Gewiß hatten wir tapfere Soldaten aller Nationen in unserem Transport, aber bei vielen war mit der physischen auch die moralische Kraft gewichen und herrschte völlige Agonie.«
    Im Oktober begannen die Kälte und das Sterben der Gefangenen. In Murom, 300 Kilometer östlich von Moskau, gab es endlich einen Menschenfreund unter

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