Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
sie trotz sehr heftiger Gegenwehr. Wilhelm von Conrady verteidigte sich im Rathaus: »Ich hatte meine beiden Pistolen in den dichtesten Haufen abgefeuert und schlug nun, da mir der Säbel in dem engen Raum nichts nutzte, mit dem Kolben um mich. – Gerade hatte ich mir etwas Luft gemacht, als mich von rückwärts ein schmetternder Kolbenhieb auf die Schulter traf und zu Boden streckte. Bajonette blitzten über mir, ich gab mich verloren! – Da, wie ich dazu kam, weiß ich nicht, in dieser Todesnot stieß ich den Erkennungsruf der Freimaurer aus – und er rettete mich. Die blitzenden Klingen, die mir eben den Tod bringen sollten, wurden zur Seite geschlagen, ein russischer Offizier beugte sich über mich, hob mich auf und führte mich, seine Leute zurückdrängend, beiseite. – Hier sagte er mir, der ich kaum wußte, wie mir geschah, er sei ebenfalls Freimaurer und glücklich, einem Bruder das Leben erhalten zu können. – Sprachlos drückte ich dem edlen Manne die Hand, während ein heißer Dank für meine wunderbare Errettung zu Gott emporstieg. Wer wollte angesichts solcher Tatsachen wohl noch zweifeln, daß unser Leben allein in seiner Hand ist! – Nachdem ich mich etwas erholt hatte, führte mich mein Retter zum Oberstleutnantd’Artawiew, der mich zum General Dorochow brachte und ihm vorstellte. – Dorochow empfing mich sehr freundlich, bedauerte, daß das Schicksal des Krieges gegen mich entschieden hätte, und sagte mir viel Schmeichelhaftes über die Art und Bravour der Verteidigung.«
Die hatte die Westphalen 51 Tote und 130 Verwundete gekostet, und was sonst am Leben geblieben war, wurde gleich abtransportiert. Oberstleutnant von Conrady hatte einen Kolbenhieb auf die Schulter erhalten, einen Streifschuß am Hals, einen Bajonettstich durch den linken Oberarm und einen in die rechte Hüfte. Russische Ärzte versorgten ihn und die anderen gefangenen Verwundeten. Am nächsten Morgen gab der Sieger, General Dorochow, den gefangenen Offizieren ein nach Conradys »jetzigen Begriffen geradezu opulentes Frühstück«. Auf dem Weg in sein Quartier bot sich ihm »ein erschütternder Anblick«: »Da lag über der Leiche ihres erschlagenen Mannes, eines Füsiliers der 1. Kompanie, eine unserer Marketenderinnen mit zerschmettertem Kopf, umstanden von ihren jammernden sechs unmündigen Kindern. Das Geld, welches sie sich durch ihr Geschäft erworben, war ihr Verderben geworden. Da die armen Leute es nicht gutwillig hergeben wollten, hatten die Russen kurzen Prozeß gemacht. C’est la guerre! – Auf meine Verwendung beim General Dorochow wurden die bedauernswerten Waisen an die anderen Frauen des Bataillons – ebenfalls Marketenderinnen – verteilt und mit diesen auf seine Güter geschickt.«
Die Gefangenen wurden nun über Borowsk, Malojaroslawez und Kaluga transportiert, dabei von Bauernmilizen überfallen, mißhandelt und ausgeplündert, als sich die Begleitmannschaft nicht sehen ließ. Die vom russischen Staat bezahlten Verpflegungsgelder wurden sowieso unterschlagen. Erschöpft Zusammenbrechende wurden von den Bauernmilizen abgestochen. »Der Eskortenführer aber ritt unbekümmert um die Greueltaten ruhig hinterher!«
Am 25. Oktober wurde die Kolonne, zu der inzwischenweitere Gefangene gekommen waren, so daß sie jetzt 1522 Soldaten betrug, von Kaluga aus nach Orel in Marsch gesetzt. Die begleitenden Bauernmilizen (Ratniks) waren ständig betrunken. »Rücksichtslos schlug man auf die Gefangenen ein, um sie möglichst schnell in das Unterkunftslokal zu treiben und dann weiterzusaufen«, entrüstet sich von Conrady. »Schrecklich ging man mit den unglücklichen Verwundeten und Kranken um. Ich sah mit eigenen Augen, wie ein Ratnik einen Kranken, der ihm nicht schnell genug vom Wagen herunterkam, an den Beinen faßte und mit solcher Gewalt herunterzog, daß der Kopf des Unglücklichen auf der Erde zerschmetterte. Damit nicht genug, durchstach er den zuckenden Körper noch ein paarmal mit seiner Pike und schwankte dann, laut ›Urrah‹ brüllend, von dannen. O hätte man doch eine Waffe gehabt! Was half es, daß ich, vor Wut kaum an mich haltend, unserem Führer die gräßliche Tat meldete. Der Tote war tot und der Ratnik nicht zu finden!«
Damit nicht genug. Am 3. November wurden 100 Kranke von der Kolonne getrennt und in einer Lohgerberei untergebracht: »Ohne daß irgend jemand sich darum gekümmert hätte, ob der Raum ausreichend und für die Kranken geeignet war, pferchte man die Armen mit Pike und
Weitere Kostenlose Bücher