Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
dürfen. In Kinowka, wo sie »größtenteils in halbverfallenen Landhäusern, welche Deutschen, die zu Kiew wohnten, gehörten«, einlogiert worden waren, erhielten sie – wie vom Zaren befohlen – ein Verpflegungsgeld und vom russischen Gouverneur Brot und täglich 125 Gramm Fleisch.
Im Winter, als die Kälte auf 35 Grad Celsius stieg, gingen die sächsischen Offiziere mit geliehenen Waffen auf die Jagd, die Hasen und Wildenten auf die Tafel brachte. Die Bevölkerung verhielt sich freundlich: »Die Stimmung der Russen in Kiew gegen uns hatte sich bereits sehr geändert, sie hatten eingesehen, daß wir nicht Franzosen, ihre Todfeinde, sondern ehrliche, gute Deutsche waren, und gefunden, daß wir besser bezahlten als ihre Offiziere und Soldaten – die oft nahmen, ohne wieder zu geben. – Unsere russischen Bekannten klopften uns freundlich auf die Schulter und sagten: Ah Saxon dobry! (Ah, der Sachse ist gut!«)
Entsetzt waren die sächsischen Offiziere über die unmenschliche Behandlung der russischen Soldaten, die gnadenlos geprügelt wurden. Beim Exerzieren standen hinter den Rekruten mit Stöcken bewaffnete Unteroffiziere, die für jeden mißverstandenen und falsch ausgeführten Befehl Schläge austeilten. »Die Rekruten, welche zu Tausenden hierhergebracht, exerziert, bekleidet und der Armee nachgebracht wurden, kamen hier, alle zwei und zwei durch ein hölzernes Schloß gefesselt, an, d. h. der rechte Fuß des einen war mit dem linken des andern durch ein festes Holz umschlossen und verbunden, so daß beide im Marsche nebeneinander Schritt halten mußten und folglich nicht entlaufen konnten, wozu sie sehr geneigt sind, da der russische Rekrut seine Heimat fastnie wiederzusehen bekommt und doch mancher sogar Weib und Kinder im Stiche lassen muß.«
Wie allen deutschen kriegsgefangenen Offizieren wurde auch hier den Sachsen angeboten, in die Russisch-Deutsche Legion zum Kampf gegen Napoleon einzutreten: »Allein ich glaube«, schreibt der anonym gebliebene sächsische Leutnant, »sie hätten mich in einem russischen Infanterie-Regimente als Capitain (Hauptmann) anstellen und mir doppeltes Traktament (Besoldung) versprechen können, ich wäre nicht darauf eingegangen, so einen Degout (Abscheu) hatte ich bereits gegen den russischen Dienst bekommen. Man sah ja hier täglich Generale und Obersten, welche selbst Stabsoffiziere auf die gröbste Weise insultierten (beleidigten) , die Subalternen sogar ohrfeigten und ihnen ins Gesichte spuckten; sie mochten es mitunter auch wohl verdient haben. Weder Bürger noch Bauer hatten die geringste Achtung für Offiziere und Soldaten, nur Furcht, sobald er sich aber für den stärkeren Teil hielt, behandelte er sie unter aller Würde. Ich habe in Kiew mitten in der Stadt aus schlechten Kneipen Offiziere herauswerfen und ihnen noch Fußtritte mit auf den Weg geben sehen. Oft wurden sie bei falschem Spiel erwischt, tüchtig durchgeprügelt und zum Hause hinausgeschmissen, wie ich selbst nebst mehren meiner Kameraden bei einem Armenier, wo man eine ausgezeichnete Tasse Kaffee (sogenannten türkischen) trank und wo eine ganz vornehme Einrichtung und meistens auch Gesellschaft war, zu unsern größten Schrecken mit ansehen müssen.«
So gut wie Rüppell und dem ungenannten sächsischen Leutnant ist es dem westphälischen Oberstleutnant Wilhelm von Conrady nicht ergangen. Napoleon hatte nach der Schlacht von Borodino dem 8. Armeekorps, das überwiegend aus Westphalen bestand, die Aufgabe zugewiesen, das Areal zwischen Moshaisk und Moskau militärisch zu sichern, um den Schutz von Kurieren, Feldpost und nachrückenden Reserven zu gewährleisten. Dazu gehörte auch die Einrichtung desStützpunkts Wereja. Obwohl Wilhelm von Conrady seinen Kommandeur, General Junot, darauf hingewiesen hatte, daß die Lage der Ortschaft mit seiner nur geringen Besatzung die Russen zu einem Überfall verleiten würde, hörte der General nicht auf die Warnung. Conrady hatte dafür gesorgt, daß die von ihren Einwohnern verlassene Stadt wieder instand gesetzt wurde und hatte auch den Popen für sich gewinnen können, indem er, als die Kirche zur Verteidigung besetzt werden mußte, alle Ikonen und Kultgeräte in ein Ersatzquartier hatte überführen lassen. Allmählich kamen die Einwohner zurück, das vorhandene Korn wurde gemahlen, Brot gebacken und Magazine angelegt.
Doch am 10. Oktober überfiel, wie von Conrady erwartet hatte, eine weit überlegene russische Einheit die Westphalen und überwältigte
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