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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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ausgezogen; krank und elend, mit Lumpen bedeckt, kehrte ich wie ein Bettler am Stocke wieder heim, nachdem ich gegen 70 Meilen von Kalisch bis Artern unter vielen Mühseligkeiten und Beschwerden, in einem kranken und kraftlosen Zustande, bei rauher Februarluft und mangelhafter Bekleidung hatte zurücklegen müssen. Nur der gnädigen Obhut des Himmels hatte ich es zu danken, daß ich bei so manchen Gefahren, die mein Leben bedrohten, nicht untergegangen, sondern glücklich bis hierher gekommen war. Die Leute, die mir in Artern begegneten, blieben staunend stehen und sahen mir nach, ich aber schlich mit gesenktem Kopfe langsam weiter. So kam ich an einem Gasthofe vorüber, in dem ich früher öfter auch verkehrt hatte. Der Besitzer, ein Fleischer mit Namen Schwarze, sah aus dem Fenster, und ich bot ihm beim Vorübergehen einen guten Abend, er dankte aber so gleichgültig, als wäre ich eine ihm ganz fremde Person. Mit unsicheren Schritten wankte ich daher dem Fenster näher und fragte mit schwacher Stimme, ob er mich nicht mehr kenne. Nein, war die Antwort. Als ich nun meinen Namen sagte, war der Mann über meine elende Gestalt ganz außer sich, er schlug die Hände zusammen und rief: ›Ei du lieber Himmel, wie sehen Sie aus, so dürfen Sie Ihre Mutter nicht überraschen, denn sonst könnte sie vor Schreck den Tod haben; kommen Sie herein, damit sie auf Ihre Heimkehr erst vorbereitet werden kann.‹ Während man mir eine Biersuppe bereitete, da mir vor Fieberfrost die Zähne aufeinanderklappten, sendete Schwarz ein Dienstmädchen zu meiner Mutter,um ihr sagen zu lassen, daß jemand im Gasthofe sei, der sie zu sprechen wünsche. Dem Mädchen war nun zwar ausdrücklich verboten worden, meinen Namen zu nennen oder von meiner Ankunft etwas zu erwähnen, aber sie mochte doch wohl davon geplaudert haben, denn meine Mutter war ihr mit eiligen Schritten gefolgt, riß die Türe auf und fragte, nachdem sie in die Stube getreten war und sich hastig darin umgesehen: ›Wo ist mein Sohn?‹ Obgleich ich nur ein paar Schritte von ihr auf dem Stuhle saß, so erkannte sie mich in meiner jammervollen Gestalt doch nicht eher, als bis ich mich erhob und ihr mit den Worten entgegenwankte: ›Hier bin ich ja, liebe Mutter.‹ Nun folgte eine Szene, die sich nur denken, in Worten aber nicht beschreiben läßt. Sie umschlang mich mit beiden Armen unter dem schmerzlichen Ausrufe: ›Ach, mein armer Sohn! wie elend siehst du aus, dir muß es sehr schlecht ergangen sein; wie danke ich Gott, daß ich dich wiederhabe!‹ Dabei weinte sie bitterlich und betrachtete meine abgemagerte und zerlumpte Gestalt mit vieler Wehmut. Um kein Aufsehen zu erregen, warteten wir in einem abgelegenen Stübchen des Gasthofes, bis es ganz dunkel geworden war, und begaben uns nach der mir wohlbekannten Wohnung am Markte, die wir schon vor meinem Ausmarsche innegehabt.«
    Theodor Goethe war nicht nur in jammervollem Zustand, er hatte obendrein Fleckfieber. Der Artener Arzt, der ihn behandelte, verzichtete auf Medikamente und verordnete, um Ansteckungen zu vermeiden, nur eine strenge Isolation. Der junge Husar lag mehrere Wochen auf Leben und Tod und genas nur langsam. Sein Arzt habe laut Goethe später gesagt, »daß er an meinem Aufkommen gezweifelt hätte, da mein Körper zu kraftlos und erschöpft gewesen sei, um der sehr heftigen Krankheit widerstehen zu können«.
    Vom Schicksal des württembergischen Kontingents wußten die Angehörigen wegen der strengen Postzensur, die der König verhängt hatte, nur wenig. Schon am 21. Juli hatte Leutnantvon Martens in sein Tagebuch notiert: »Briefe, die mit der Feldpost aus dem Vaterlande kamen, ließen uns sehen, in welchem Irrtum sie sich bezüglich unserer Lage dort befanden; in Stuttgart glaubten sie, wir eilten jubelnd und siegestrunken der Zarenstadt zu, von unsren Drangsalen hatten sie keinen Begriff.« Wehe demjenigen, der Informationen über die wahre Lage der Grande Armée und besonders des württembergischen Kontingents besaß und sie weitergab, vielleicht sogar wagte, im Spätherbst 1812 über die politische Lage zu spekulieren, wie es der Hoftheaterfriseur Schumacher in Stuttgart gewagt hatte. Am 27. November meldeten die in Stuttgart erscheinenden Zeitungen: »S. K. Majestät haben den hiesigen bürgerlichen Perückenmacher Schumacher, weil er sich erlaubt hat, unwahre und unschickliche Äußerungen über die neuen Kriegsereignisse und politischen Konjunkturen zu machen, zum abschreckenden Beispiel für alle

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