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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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nicht weiterkonnten, niederknien und wurden, nachdem man sie angehalten, ein kurzes Gebet zu verrichten, mit der Pistole durch den Kopf geschossen. Diese Exekutionen mußte eine hochschwangere Frau, die mit uns gefangen war (…), mit ansehen. Ihres Zustandes wegen auf einem der erbeuteten Wagen nachgeführt, hielt man dieser Unglücklichen bei der Ausführung dieser Barbareien einige Mal die Augen zu. Einige Gefangene suchten sich mit der Flucht in die Wälder zu retten, doch gelang dieses nur zweien, die andern mußten dieses ihr Unternehmen mit dem Tode büßen.
    Beim Durchzug durch niedergebrannte Dörfer, deren Bewohner soeben zurückgekehrt waren, mußten wir die schimpflichste Schmach erdulden, und wurde mancher selbst von wutschäumenden Weibern mit Keulen niedergeschlagen, ehe es die uns begleitenden Wachen verhindern konnten oder verhindern wollten. Unter gräßlichem Geheule zeigten sie uns dann die verbrannten Gerippe ihrer Angehörigen, die sie aus dem Schutte hervorgezogen hatten und die, am Wege ausgelegt, uns fürchterlich angrinsten.«
    Die Gefangenen, von denen täglich zehn bis zwölf den Strapazen des Marsches erlagen, erreichten nach zwei Wochen Kaluga und schließlich Tula. Hier lernte Richard, der früher in der King’s German Legion gedient hatte und daher gut englisch sprach, einen englischen Stahlfabrikanten kennen, der ihn an den Chef der Tulaer Gewehrfabrik, einen Baron Bode, weiterempfahl. Der versorgte Richard mit Kleidung und Lebensmitteln; ein Arzt untersuchte die ihm bei seiner Gefangennahme zugefügten Verletzungen und erklärte ihn für nicht transportfähig, als die Gefangenen nach Sibirien gebracht werden sollten. Richard kam ins Lazarett mit der wieüblich hohen Sterbequote. »Alle Morgen wurden einige unter der Pritsche gefunden, die, in den Ecken zusammengedrückt, ihr Leben geendet hatten. Diese Leichen blieben oftmals 6 bis 8 Tage nackend und steif gefroren auf dem Hofe aufgeschichtet liegen.« Doch wenigstens mußten die Überlebenden nicht hungern, »indem täglich angesehene Damen, von Dienstmädchen begleitet, den unglücklichen Kranken warmes Essen und Erfrischungen reichten und freundlichen Trost einsprachen«. Doch nachdem der größte Teil der Gefangenen deportiert worden war, hörte das Interesse der »höhern Stände« Tulas auf, und die Gefangenen mußten in der Stadt um Brot betteln. Als Richard dann – mit Fleckfieber oder Typhus infiziert – im Fieber delirierte, wurde er von dem wachhabenden russischen Offizier mißhandelt:
    »Wie soll ich meine Empfindungen beschreiben, wenn man mir einen Eimer kaltes Wasser über den nackten Körper goß, um mich so den zu lauten Phantasien zu entreißen, wodurch die nächtliche Ruhe unterbrochen wurde. – Diese rohen Menschen weideten sich an meinen Leiden, die Ausgeburten meiner erhitzten Phantasie lustig belächelnd. Meine Einbildungskraft war nur allzu geneigt, mir gräßliche Bilder vorzuzaubern. Wäre ich imstande gewesen, die Schrecknisse meiner Phantasie wiederzugeben, so hätte ein zweiter Holbein einen neuen Totentanz liefern können. Es versteht sich von selbst, daß Sibirien der Schauplatz dieser Unbilde war. Der Gedanke an meine dahin getriebenen Unglücksgefährten schwebte mir unausgesetzt vor.
    Nur ein alter Jude aus Wilna, der wegen Falschmünzerei die Knute erhalten und nur gelindere Witterung abwarten mußte, um in die sibirischen Bergwerke abgeführt zu werden, machte eine Ausnahme und zeigte sich mir jederzeit, trotz seiner aufgeschlitzten Nase, als ein rettender Engel. Wie oft teilte nicht dieser Hebräer, der gut deutsch sprach, sein Stückchen Brot mit mir, und welche Freude strahlte aus seinen Augen, wenn er das Glück hatte, während seines Streifzuges durch dieStadt eine saure Gurke oder etwas Rote Beete zu meiner Erquickung erhalten zu haben.
    Der Tod würde diesen Leiden bald ein Ende gemacht haben, wenn nicht meine starke Natur die Oberhand behalten hätte, so daß ich ohne fremde Hilfe hinaustaumeln konnte, als der Jude mir eines Tages die Nachricht brachte, daß ein Trupp Spanier auf dem Hofe angekommen sei. Ich fand den Platzmajor dort, der Brot und Kleidungsstücke unter einige 40 Spanier verteilte, welche hier einige Tage ausruhen und dann über Odessa ihrem Vaterlande wieder zugesandt werden sollten. Der Offizier, dem ich über meine unglückselige Lage bittere Vorwürfe machte, glaubte in mir einen Geist zu erblicken, denn schon vor drei Wochen hatte man mich auf die Totenliste gesetzt

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