Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
letzten Male die Hand drückte. Der Tod stand ihnen auf dem Gesichte geschrieben, und doch hofften sie auf Genesung. Ich nahm meine ganze Willenskraft zusammen, um sie meine Ergriffenheit nicht sehen zu lassen und ihnen Mut zuzusprechen. Als sie hinausgetragen waren, brachen aber meine Nerven völlig zusammen, und ich verfiel in einen Weinkrampf.«
Nachdem in Orel bekannt geworden war, wie menschlich der Oberstleutnant von Conrady die Bevölkerung Werejas behandelt hatte, konnte er sich kaum noch vor Einladungen in die Häuser der vornehmsten Familien der Stadt retten, und er lernte die »großartige Gastfreundschaft der vornehmen Russen« kennen. Und doch dezimierte der Tod auch die Gefangenen. Mit 10 Offizieren und 280 Mannschaften waren sie am 5. November in Orel eingezogen, zu Weihnachten waren davon noch ein Offizier (von Conrady selbst) und 27 Mann übriggeblieben. Dann aber erreichte der Typhus auch von Conrady und hätte ihn fast das Leben gekostet. Wieder genesen, fand er die herzlichste Aufnahme in russischen Familien. Mitte Januar 1814 kam die ersehnte Entlassung. Gemeinsam mit sächsischen und bayerischen Offizieren trat der Oberstleutnant mit seinen noch überlebenden Westphalen in 20 Schlitten die Heimreise an.
Am 10. März abends um elf Uhr erreichte Wilhelm von Conrady seine Heimat Hersfeld: »Ich stürmte die Treppe hinauf und lag im nächsten Augenblick in den Armen meiner Frau, die gerade zur Tür heraustrat, um sich nach dem Lärm zu so ungewohnter Stunde zu erkundigen. Die Schilderung dieses Wiedersehens erlasse man mir. Es genüge, zu sagen, daß in diesem seligsten Augenblicke meines Lebens alles Leid und aller Kummer, den ich so lange getragen, von mir abfielen wie morsche Rinde und von meinen vor Rührung stummen Lippen ein heißer Dank zu dem Lenker aller Dinge emporstieg.«
Nach der Einverleibung eines Teils von Norddeutschland mit Hamburg, Bremen und Lübeck in das französische Kaiserreich im Dezember 1810 hatte Napoleon neue Untertanen und somit auch neue Soldaten gewonnen. So wurde das 127. Infanterie-Regiment der französischen Armee überwiegend aus einstigen Hamburger Stadtsoldaten und den Eingezogenen (Konskribierten) gebildet. Die Führung des Regiments bestand zum Teil aus bewährten französischen Offizieren,Kommandeur war aber ein Deutscher, Oberst Schäffer. Das zur 3. Division des 1. Armeekorps gehörende Regiment zeichnete sich in den Kämpfen von Smolensk und Walutina-Gora im August aus, wo es schwere Verluste erlitt. Mitte Oktober – nach dem Überfall auf Wereja – geriet es gemeinsam mit anderen Einheiten in ein heftiges Gefecht, wobei auch der aus Lüneburg stammende Unteroffizier F. C. Richard in Gefangenschaft geriet; die Sieger bestanden aus einem Korps von Dragonern, Husaren und Kosaken.
»Unser Empfang war nicht der beste, denn da wir dem Befehlshaber dieser Truppen vorgeführt wurden, so schlug dieser mit eignen Händen mehreren von uns so unsanft ins Gesicht, daß das Blut aus Nase und Mund lief. Mit 30 Kantschuhieben wurde ich regaliert, was eine Folge des Schusses war, mit welchem ich bei der Gefangennehmung den einen Kosaken verwundet hatte. – Der heutige Ertrag der Gefangenen belief sich auf ungefähr 1200 Mann, eine wahrhafte europäische Musterkarte. Wir lagerten auf einem großen Felde. Nach geschehener Exekution mischten auch wir uns unter die Russen.
Die mondhelle Nacht glich einem förmlichen Jahrmarkte, auf dem aber bloß Tauschhandel getrieben wurde. Die Russen durchwandelten unsern Lagerplatz, und was ihnen anstand, wurde genommen oder gegen schlechtere Sachen vertauscht, so daß ich in Zeit von einer Stunde schon das 4. Paar Hosen anhatte, die kaum die Blöße bedeckten und von Ungeziefer wimmelten. Mein Anzug ward sehr bald auf diese Hose und ein Hemd reduziert.
Als der Tag anbrach, wurde dieses Korps von den Franzosen angegriffen, die aus dem nahen Walde, an dessen Rande die Russen biwakierten, hervorbrachen. Schon sann man darauf, uns allen den Garaus zu machen, was auch mit den Blessierten und Kranken geschah, die nicht folgen konnten. Wir übrigen wurden mit der größten Eile fortgetrieben, während man sich mit dem heranrückenden Feinde schlug. Einjeder, der bei diesem Rückzuge nur einen Schritt zurückblieb, wurde niedergestoßen und der zuckende, mit dem Tode ringende Körper noch in der Geschwindigkeit seiner wenigen Lumpen beraubt. Nachdem die Franzosen vom Verfolgen abließen, mußten die Unglücklichen, die wegen Mattigkeit
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