Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
und so meine Wohltäter zu meinem großen Leidwesen getäuscht.« Mit den 40 Spaniern wurde Richard zunächst nach Orel geschickt, dann aber mußte er als Deutscher im Februar 1813 nach St. Petersburg, wo man ihn in die Russisch-Deutsche Legion eingliederte, zu Schiff nach Stralsund brachte und ihn nötigte, gegen seine einstigen Waffengefährten, die Franzosen, im Gefecht an der Göhrde (16. 9. 1813) zu kämpfen. Erst nach der Schlacht von Waterloo kehrte er nach Deutschland zurück.
Der mittlerweile fünfzehnjährige Trompeter Carl Schehl vom 2. französischen Carabinier-Regiment, gehörte zu einer Gruppe von 40 Reitern, die am 26. Oktober beim Rückzug von Malojaroslawez zum Fouragieren ausgeschickt worden waren. Sie fanden in einem verlassenen Dorf abseits der Rückzugsstraße ein größeres Quantum Roggen, das gleich hier zu 2000 Pfund Brot verbacken wurde. Als die Gruppe, schwerbepackt, auf dem Rückzug war, kam sie am 28. abends durch ein scheinbar verlassenes Dorf, hörte eine Turmglocke dreimal anschlagen, und von oben ließ sich die kräftige Stimme eines Popen in lateinischer Sprache vernehmen, die jedoch keiner der Soldaten verstand. Es war das Signal für ein heftiges Gewehrfeuer, von dem zwar niemand getroffen wurde,doch die Gruppe verlor sich nun völlig zersprengt in der Nacht, kam von der Straße ab und wurde am 29. mittags von einer Kosakeneinheit gefangen – Schehl und fünf seiner Gruppe. Die anderen waren verschollen. Wie üblich wurden alle restlos ausgeraubt. »Meine Montierung, meine Stiefel und meine Beinkleider zogen sie mir aus«, berichtet Schehl. »Mit meinem schwarzseidenen Halstuche, welches – da ich es lange nicht abgelegt hatte – etwas fest geknotet war, hätte mich einer dieser Halunken, um es mir zu entreißen, beinah erwürgt. Eine andere Bestie hatte schon ihren Säbel gezogen und wollte mir den Ringfinger der linken Hand abhauen, um einen dünnen Goldreif zu erobern, der mir etwas ins Fleisch gewachsen war und sich daher nicht gleich abstreifen ließ. Zu meinem großen Glücke bemerkte einer ihrer Offiziere das Manöver, lief herbei, verabreichte meinem Peiniger eine grandiose Ohrfeige, ergriff selbst meine Hand, benetzte meinen Ringfinger mit seinen Lippen, drehte das Ringelchen so lange, bis es ihm gelang, es abzustreifen, und steckte sich dann dasselbe an den kleinen Finger seiner eigenen linken Hand. Wer war froher als ich! Den Ring, ein Andenken meiner guten Mutter, hatte ich zwar eingebüßt, aber doch meinen Finger behalten, ohne den es mit dem Violinspielen und Klarinetteblasen auch zu Ende gewesen wäre.« Und wohl auch mit seinem Leben, denn nun geschah etwas Wunderbares: »Da auf einmal entdeckten die Feinde, welche noch immer mit ihrer Beute beschäftigt waren, in einer der vier inwendigen Taschen meiner Schafpelz-Schabracke eine B-Klarinette, die ich bei unserer früheren Harmonika-Musik geblasen hatte. Spornstreichs kamen einige zu mir gerannt und forderten mich durch lebhafte Pantomimen auf, ihnen etwas vorzuspiele. (Zur Ausbildung eines französischen Trompeters gehörte auch das Erlernen der Klarinette.)
Das Instrument hatte ich seit unserm Kantonement in Kienitz, also seit beinahe sieben Monaten, nicht in den Händen gehabt, es war demnach sehr vertrocknet, und ich mußte allenur erdenklichen Hilfsmittel anwenden, um dem dürren Holze endlich nur einige Töne zu entlocken. In meiner trüben Stimmung versuchte ich das bekannte Lied ›O du lieber Augustin, alles ist hin …‹ in einem sehr langsamen, äußerst melancholischen Tempo zu blasen, da ich hoffen durfte, daß mein verkommenes Instrument mir die wenigen Töne, welche der liebe Augustin in Anspruch nimmt, nicht versagen würde. Und siehe da, mein Versuch gelang vollständig. – Ich trug den Kosaken, in meinem oben beschriebenen Kostüm, meine Romanze vor, ohne einen einzigen von den beim Anblasen vertrockneter Klarinetten mitunter vorkommenden Gänsegurgel-Tönen einfließen zu lassen; und diese einzige Solopartie, die ich (…) jemals vor versammeltem Publikum ausgeführt habe – rettete mir das Leben – wie dies der geneigte Leser sogleich erfahren soll.
Die gemeinen Russen lieben nämlich eine melancholische Musik weit mehr als eine heitere – was ich übrigens erst später erfuhr –, darum hatte denn auch meine geringe Kunst und die trübselige Weise, in welcher ich an jenem für mich so verhängnisvollen Tage meinen ›lieben Augustin‹ vortrug, mir die Steppensöhne, in deren Gewalt
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