Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
ich geraten war, plötzlich geneigt gemacht.
Zuerst kam einer und brachte mir ein altes, grauleinenes Beinkleid; ein anderer schenkte mir ein Paar grauwollene Lappen und ein Paar Bastschuhe, welche, mir durchaus fremde Bekleidungs-Gegenstände, er mir kunstgerecht anlegen half. Die wollenen Lappen werden nämlich um die Füße und über das Beinkleid um die Beine bis unter das Knie gewickelt und dann die Bastschuhe angezogen, von welchen jeder mit zwei starken hänfenen Kordeln versehen ist, die vollständig ausreichen, um Füße und Beine, bis an die Knie, über Kreuz einzuschnüren. Meine unteren Extremitäten bekamen durch diese zweckmäßige Bekleidung zwar viele Ähnlichkeit mit denen eines Bären, aber ich empfand sofort eine angenehme Wärme in denselben und faßte wieder ein wenig Mut.Zum schuldigen Dank für diese unschätzbaren Wohltaten ergriff ich auch aus freien Stücken meine Klarinette und gab meinen neuen Gönnern ›Guter Mond, du gehst so stille …‹ als zweite Nummer meiner künstlerischen Leistungen zum besten, welches schwierige Musikstück ebenfalls mit vielem Gefühl und ganz tadelfrei von mir ausgeführt wurde.
Hatte der ›liebe Augustin‹ mir schon so viele Freunde erworben, so wurde deren Zahl durch den ›guten Mond‹ mindestens verdoppelt, denn gleich nachdem meine zweite Nummer beendigt war, trat ein alter Graubart an mich heran und beschenkte mich – o unaussprechliches Glück – mit einem Schafpelzrock.«
Außerdem bekam Schehl nun auch zu essen, durfte bei den Kosaken am Feuer sitzen und konnte sein Glück nicht fassen. »Ich war nur eifrigst bemüht, meine neuen Gesellschafter durch wiederholte musikalische Produktionen immer günstiger für mich zu stimmen.«
In der Nacht zum 30. Oktober schneite es heftig, und die Temperatur sank auf minus 15 Grad Celsius. Immer mehr Gefangene wurden eingebracht, schließlich waren es 700, und da ihnen die meisten Kleidungsstücke genommen worden waren und sie kein Feuer machen durften, starben sie sehr schnell. Bewacht wurde der Zug von Bauernmilizen, die ihren Sadismus an den Gefangenen auslebten. »Als wir später in einem Walde etwas gerastet hatten, blieben nach dem Kommando zum Antreten viele liegen, die sich nicht mehr aufrichten konnten; diese rissen die Kreuzbauern (so genannt wegen des an ihrer Mütze befestigten Kreuzes) empor, banden sie an die Bäume und belustigten sich damit, sie langsam und mit vielen nicht tief eindringenden Lanzenstichen zu Tode zu martern, anstatt ihnen gleich einen ordentlichen Stich in das Herz zu geben. (…) Glücklicherweise hatten die Landmilizmänner keine Gewalt über mich, da die beiden Kosaken, als Chefs der Eskorte, mich sorgfältig vor jeder Mißhandlung bewahrten und mich schon am zweiten Tage, als auf dem Transportwagenetwas Raum geworden war, zwischen die Heu- und Strohbündel setzten, mit welchen ich von nun an gefahren wurde.«
In einem Dorf versuchte »ein großes, mit einem beinahe zwei Zoll dicken jungen Tannenstamm bewaffnetes altes Weib« Schehl zu erschlagen, wovor ihn sein Carabinierhelm schützte, ein zweiter Schlag traf seine Schulter, und nur die Kosaken-Eskorte rettete dem jungen Musiker das Leben. Von den 700 Gefangenen lebten am Morgen des 2. November, als man Moskau erreichte, noch elf. Hier wurde Schehl von seinen neuen Bewachern die Klarinette weggenommen. Untergebracht wurde er mit 30 neu eingelieferten Gefangenen (Deutsche, Holländer, Italiener und wenige Franzosen) in einem Raum eines vom Brand verschont gebliebenen Hauses. Sechs Tage lang bekamen die Gefangenen nichts zu essen. Am siebten Tag besichtigte der Moskauer Platzkommandant, Oberst Orlowsky, die Gefangenen und erfuhr von ihnen vom Hungertod der Soldaten. Orlowsky wollte es nicht glauben: »Ich habe befohlen, euch die regelmäßige Verpflegung an Brot, Fleisch und Branntwein zu reichen, gerade wie meine Soldaten sie erhalten, und dies geschieht nach dem ausdrücklichen Willen unseres Kaisers.« Schehl bat ihn, einen Blick auf die im Hof gestapelten Leichen zu werfen, was Orlowsky auch tat. »Unsere Wächter wurden herbeigerufen und mußten zunächst alles wieder abgeben, was sie den armen Gefangenen gestohlen hatten – meine Klarinette war aber nicht mehr vorhanden –, und nun wurde ich Augenzeuge einer Exekution, die ich nie für möglich gehalten hätte. (…) Die Wächter mußten ihre Röcke ausziehen und wurden auf Befehl des Herrn Obristen von den Ulanen mit so kannibalischer Grausamkeit
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