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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Boden aufstehen konnte. »Stroh hatten wir nicht. Zu seinen Fieberdelirien gesellte sich eine die Luft verpestende Diarrhöe. So starb er im elendesten Zustande, ohne ärztliche Hilfe mitten unter uns. Wir verlangten nun, daß die Russen ihn hinausschaffen sollten. Die ekelten sich aber vor der in ihrem Kote liegenden Leiche, mochten auch wohl Ansteckung fürchten und erklärten, sie wollten das Aas nicht anfassen. Da wir nun das Haus nicht verlassen durften, auch die Leiche nicht auf den Hof, wo wir frische Luft schöpften, legen wollten, so blieb uns nichts übrig, als sie zum Fenster hinaus auf die Straße zu werfen. Vier von uns ergriffen den starren Körper und zählten, ihn hin- und herschwenkend: 1, 2, 3! und hinaus flog er in den Schnee, den der Wind vor unserem Fenster zusammengeweht hatte. Hier lag er steif gefroren mehrere Tage, bevor er weggeschafft ward.«
    Wenigstens mußten die Offiziere nicht hungern; sie bekamen täglich Fleisch, Kartoffeln, Hafergrütze und Brot, von dem allerdings die Kosakenwache tüchtig abschöpfte, und die verlauste Kleidung und die beengte Unterbringung wurden sie nicht eher los, bis General Bennigsen davon erfuhr und dafür sorgte, daß alle Offiziere in Privatquartieren untergebracht wurden, wo sie sich erstmals von Kopf bis Fuß reinigen und neue Kleidung in Empfang nehmen konnten. Ende 1812 infizierte sich auch Carl von Wedel mit der vom Lazarett ausgehenden Typhusepidemie, was ihn fast das Leben gekostet hätte, doch dank der Behandlung eines guten russischen Arztes genas er. Am 24. April wurden die Gefangenen ins Landesinnere gebracht. Fast vier Monate später trafen sie in Pensa ein, wo sie schon viele Gefangene vorfanden, und am 12. August schließlich tiefer im südlichen Landesinnern Rußlands, in Saratow. Warum so weit von der Heimat entfernt und warum gerade Saratow, fragte sich Graf Wedel und hatte eine Vermutung:»Mehr als die Hälfte der Einwohner und fast alle Handwerker waren Deutsche, welche gern deutsche Gefangene als Gesellen aufnahmen. Etwas weiter nördlich soll das linke Ufer ( der Wolga ) fruchtbarer sein, und dort sollen gerade einhundert deutsche Kolonien, von der Kaiserin Katharina gegründet, liegen. Dahin waren viele deutsche Soldaten geschickt, von denen viele dageblieben sind.«
    Es gab hier einen beachtlichen Wohlstand, Lebensmittel im Überfluß, Fischerei und fruchtbare Böden. Für den Winter zahlte die russische Regierung jedem gefangenen Offizier 100 Rubel zur Beschaffung von Winterkleidung, denn der Winter war hier hart, vor allem wegen des schneidenden Ostwinds mußten hier spezielle Pelzmützen getragen werden, die fast das ganze Gesicht verhüllten. »Man denke sich meinen Schreck, als ich einst, bevor ich eine solche Pelzmütze hatte, ruhig meines Weges ging und ein Russe auf mich zukam und mir sagte: ›Herr, Ihre Nase ist Ihnen erfroren!‹ Er griff zugleich in den Schnee, rieb mein Gesicht damit, nahm eine zweite und dritte Handvoll und sagte dann: ›Sie wird wieder rot, es wird diesmal wohl noch gutgehen. Nehmen Sie die Hand voll Schnee, stecken Sie die Nase hinein, und fahren Sie damit so lange fort, bis sie wieder ganz rot und warm ist.‹ Meine Nase schilferte nachmals zwar ab, aber weiteres Übel verspürte ich nicht davon.« Und er resümiert: »Wie hängt doch so oft das ganze Schicksal eines Menschen von geringen Zufällen ab!«
    So ließe sich auch dieses Kapitel überschreiben, denn die hier vorgestellten 14 Schicksale sind randvoll von wunderbaren Zufällen. Graf Wedel verließ am 26. Februar 1814 Saratow in Richtung Heimat und kam Anfang Juni in seiner Heimat Leer an.
    Der westphälische Leutnant J. J. Wachsmuth, verwundet in der Schlacht von Borodino, wurde am 16. Oktober aus den Lazarett in Moshaisk entlassen und mit einem Transport von Kranken und Verwundeten heimwärts geschickt. Kurz vorWjasma wurde dieser Transport aus 24 Wagen von Kosaken überfallen. Wachsmuth, den ein »menschliches Bedürfnis, das sich nicht hatte wollen aufschieben lassen«, veranlaßt hatte, sich im Schutz eines Wagens niederzuhocken, sah plötzlich lauter Lanzen von »wilden Kriegern« auf sich gerichtet: »Ein so komischer Auftritt, daß ich, indem ich meine Kleider wieder in Ordnung brachte, mehrere Male laut auflachen mußte; und die Kosaken lachten nun herzlich mit und ließen die Lanzen sinken. Ihr Zorn war gänzlich verschwunden, und einer derselben, als er sah, wie schwer es mir wurde, wieder aufzusteigen, fragte: › Rani, Camerad

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