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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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»Wohin das Auge blickt, sieht man Dörfer«, schreibt Major Wilhelm von Loßberg am 27. August aus Dorogobusch an seine Frau, »und ich finde darin die Bestätigung, daß diese von den Einwohnern, sowie die Armee zurückgeht, verlassen und (wenn auch nicht vorsätzlich) unsererseits durch Unvorsichtigkeit oder aus Nachlässigkeit angezündet werden. Letzteres geschieht dadurch, daß in allen Wohnungen der Russen sich Backöfen befinden, diese die Soldaten, besonders die Traineurs (Nachzügler) und Marodeurs von allen Armeekorps, zum Brotbacken benutzen und das darin angemachte Feuer beim Verlassen derselben nicht wieder auslöschen, welches auch oft aus Ärger geschieht, weder Menschen noch etwas von Wert in den Häusern gefunden zu haben. Von den zu beiden Seiten der Straße liegenden Schlössern und adeligen Höfen sieht man nur noch die Trümmer, und wenn sie noch nicht abgebrannt sind, so findet man gewiß keine Dielen und Möbel, welche nicht aufgehoben oder zerschlagen wären, weil (der Sage nach) Marodeurs kostbare Gegenstände und Geld darin versteckt gefunden haben sollen. Ebenso ergeht es den Tapeten und besonders den Spiegeln, die in tausend Fetzen und Stücken in den Zimmern umherliegen. Das Herz blutet einem, wenn man diese Greuel sieht, welche so ganz nutzlos und selbst zum größten Nachteil unserer Subsistenz ausgeübt werden und woraus insbesondere uns der Nachteil erwächst, daß bis zu unserem Armeekorps, als demallerletzten in der großen vorrückenden Armee, nur höchst selten eßbare Gegenstände gelangen können, weshalb die Offiziere, welche mit der Herbeischaffung der Subsistenzmittel für das Regiment beauftragt sind, jetzt auch die Kornfelder abmähen und selbst die Früchte dreschen lassen.«
    Aus diesem Brief des westphälischen Majors spricht die Trauer über Menschen, denen längst jegliche Zivilisation abhanden gekommen ist und die ihr tägliches Zerstörungswerk auch auf Kosten der eigenen Substanz betreiben. Doch es waren nicht nur die Marodeure der Grande Armée, deren Zerstörungswut Wilhelm von Loßberg beklagt. Marodeure folgten inzwischen auch der russischen Armee, die mittlerweile ebenfalls mit Auflösungserscheinungen zu kämpfen hatte. Ihr Verfahren, aufgegebene Dörfer und Städte grundsätzlich niederzubrennen, nachdem man die eigenen Landsleute gründlich geplündert und zur Evakuierung genötigt hatte, hatte die dem Krieg immanente Zerstörungslust noch zusätzlich befördert. Freund und Feind wurden einander immer ähnlicher.
    Drei Tage vor Major von Loßbergs Brief an seine Frau nach Kassel war vom »Inspecteur der Kaiserlichen Mobilien« Marie-Henri Beyle aus Smolensk ein Brief nach Paris abgegangen. Der neunundzwanzigjährige Beyle, der 1800 als blutjunger Offizier an Napoleons siegreichem Italienfeldzug teilgenommen hatte und später unter dem Pseudonym Stendhal in die Weltliteratur eingehen wird, war als Kurier der französischen Regierung während der Kämpfe im kaiserlichen Hauptquartier eingetroffen, das sich noch bis zum 23. August in Smolensk befand. Jetzt kümmerte er sich in den Ruinen der Stadt um Verwaltungsaufgaben. Sein Brief ist das Zeugnis eines empfindsamen Ästheten, der als Auditor (Beisitzer) im Staatsrat einst freiwillig und aus purer Lust am Abenteuer auf eigenen Wunsch als Kurier wichtiger Papiere hierhergeschickt worden war – nicht ahnend, was ihn erwarten würde: »Hier zu sein ist für mich kein großes Glück. Wie sich der Mensch ändert! Diese Sucht, alles zu sehen, die ich früher hatte, istvollkommen erloschen; seitdem ich Mailand und Italien gesehen habe, stößt mich alles, was ich sehe, durch seine Grobheit ab. Würdest Du glauben, daß ich zuweilen den Tränen nahe bin, ohne daß mich irgend etwas mehr berührte als einen anderen, ohne persönlichen Grund. In diesem Meer der Barbarei ist nicht ein Ton, der meiner Seele antwortet! Alles ist gemein, schmutzig, im leiblichen und im geistigen Sinne übelriechend. Ein wenig Freude hatte ich lediglich, als ich mir auf einem kleinen verstimmten Klavier von einem Menschen vorspielen ließ, der so viel Gefühl für Musik hat wie ich für Messen. Ehrgeiz hat keinen Einfluß mehr auf mich; das schönste Ordensband schiene mir keine Entschädigung für den Schlamm, in dem ich versinke. Ich stelle mir die Höhen, in denen meine Seele schwebt (in einem schönen Klima, Werke schreiben, Cimarosa hören und Angela lieben), wie liebliche Hügel vor; weit ab von diesen Hügeln, im Tal, sind stinkende

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