Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Kämpfen um Smolensk und Walutina-Gora. Es fehlte wieder an allem, obwohl Chefchirurg Jean-Dominique Larrey in Witebsk dem Kaiser die katastrophale Situation geschildert und Napoleon Abhilfe versprochen hatte. Doch gegenüber seiner so unfähigen wie korrupten Intendantur schien auch der Kaiser machtlos zu sein. Larrey mußte schließlich seine Zuflucht zu den Akten des Smolensker Staatsarchivs nehmen, das vom Feuer verschont geblieben war: »So bediente ich mich anstatt der Leinwand, die wir schon, ungerechnet die Hemden der Verwundeten, in den ersten Tagen verbraucht hatten, der Akten, die wir in dem Archiv fanden, dessen Gebäude zu einemHospital verwandt worden war. Das Pergament diente zum Festhalten der Verbandstücke und zu Schienen, die Fasern und die Kätzchen der Birken statt der Charpie, und das Papier war recht willkommen, die Kranken darauf zu legen. Fast alle Einwohner der Stadt hatten ihre Häuser verlassen, der größte Teil derselben war ein Raub der Flammen geworden, oder sie waren geplündert. Tag und Nacht waren wir mit dem Verbinden der Soldaten beschäftigt, die von Hieben und Kugeln verletzt waren, und trotz der wenigen Hilfsmittel, die wir hatten, wurden doch alle Operationen in den ersten vierundzwanzig Stunden gemacht.«
Für eine solche Masse an Verwundeten – Leutnant von Kurz schätzte ihre Zahl auf 10 000 – standen nicht annähernd genug Ärzte und Sanitäter zur Hilfe bereit. Es dauerte Tage, bis alle Verwundeten aus den Kämpfen von Smolensk und Walutina-Gora in den Smolensker Lazaretten eingeliefert worden waren. »Eine große Menge hatte vorher schon in den Straßen ihr Leben ausgehaucht. Hier lagen sie dicht aneinander, größtenteils ohne Stroh, ohne irgendein Labsal, lange Zeit ohne Verband«, schreibt Leutnant von Kurz.
Noch schlimmer ging es den russischen Verwundeten. Sie zu bergen und medizinisch zu versorgen war dem französischen Sanitätskorps unmöglich, reichte das Personal doch nicht einmal für die eigenen Leute aus. »Sie waren immer die letzten, deren sich die Menschlichkeit annahm«, bedauert von Kurz. »Mehrere Tage lagen sie in der Umgebung, in den Straßen der Stadt, an öffentlichen Plätzen, Höfen und Gärten umher und starben meist den schmerzhaften Tod des Hungers, des Brandes oder der Verblutung ihrer Wunden. Den in ebenso großer Zahl vorhandenen russischen Kranken, die am 18. August der Menschlichkeit des Siegers übergeben wurden, mußte, wegen Mangels an Raum, die Aufnahme in die Spitäler ebenfalls versagt werden; sie schleppten sich in der Stadt herum oder auf den Straßen außerhalb derselben und kamen so elendiglich um. (…) Später nachziehende Marketenderversicherten, daß mehrere Tage nach dem Treffen bei Walutina schwerverwundete Russen an die Landstraße gekrochen und, vergeblich nach Hilfe jammernd, die Vorüberziehenden um einen Trunk Wassers angefleht hätten.«
Schwerstverwundete der Gegenseite wie der Westphale Paul Köhler hatten zumindest Hoffnung auf ärztliche Versorgung. Der Leutnant im Chevaulegers-Lanciers-Regiment der Garde war im Gefecht von Walutina-Gora schlimm zugerichtet worden. Zuerst hatte die Lanze eines russischen Lanciers das Sturmband seines Kasketts getroffen, war dabei abgerutscht und hatte ihn unterhalb des Kinns verletzt. Eine matte Gewehrkugel führte zu einer Prellung am linken Bein. Zwei leichte Lanzenstiche verletzten seine rechte Seite, ein weiterer den rechten Arm. Dann aber stieß ihm ein Kosak die Lanze mit solcher Wucht in die linke Schulter, daß die Waffe vorn wieder heraustrat und im Körper steckenblieb. Ärzte konnten die Waffe herausoperieren und Köhler, der viel Blut verloren hatte, verbinden. Die Verletzung am Hals erwies sich als klaffende Wunde, die dem Leutnant das Sprechen fast unmöglich machte. Köhler, den Schmerzen und einsetzendes Wundfieber das Bewußtsein genommenen hatten, konnte mit Hilfe seines treuen Bedienten zunächst in ein kleines Dorf in einem Bauernhaus untergebracht werden. Erst am dritten Tag fand er gemeinsam mit zwei westphälischen Husarenoffizieren in einem Smolensker Lazarett Aufnahme: »Der Transport war sehr angreifend. Auf einem mit zwei elenden Stieren bespannten kleinen russischen Wagen (der Husarenleutnant) Stein und ich, Schritt für Schritt im tiefen Sande und bei der gräßlichsten Hitze uns fortbewegend. Unsere Wunden eiterten bei dem heißen Wetter sehr stark und verursachten einen ekelhaften Geruch. Erst spät am Abend erreichten wir halb verschmachtet
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