Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
unterhalb seiner Garde an einem Hang, von wo aus er alles sehen konnte. Mehrere Kugeln flogen über seinen Kopf hinweg. Wenn ich von meinen Aufträgen zurückkam, fand ich ihn immer in der gleichen Haltung sitzen, mit einem Taschenfernglas alle Bewegungen im Blick und gab seine Befehle mit unerschütterlicher Ruhe. Aber wir hatten nicht das Glück wie sonst, von seiner Gegenwart elektrisiert zu werden. (…) Jeder von uns staunte, den aktiven Mann vonMarengo, Austerlitz usw. nicht mehr wiederzuerkennen. Wir verstanden nicht, daß Napoleon leidend geworden war und daß ihn dieser kranke Zustand unfähig machte, im großen Geschehen vor seinen Augen zu handeln, ausschließlich im Interesse seines Ruhms. (…) Wir waren nicht sehr zufrieden; unser Urteil war streng.« Daß der große Schlachtenlenker krank und hinfällig war, wußte nur seine engste Umgebung. Die Soldaten Napoleons glaubten noch an ihren Helden und erhofften sich von der Schlacht die Entscheidung, die endlich Frieden und Heimkehr bringen würde. Geführt von diesem Feldherrn, konnte der Sieg nicht zweifelhaft sein.
Der Schlachtbeginn war schon einmal vielversprechend. Die Russen hatten am Nachmittag des 6. September bis um Mitternacht Schanzen von den Bauern aufwerfen lassen; in der Mitte die große kanonenbestückte Rajewski-Schanze und auf ihrem linken Flügel die kleineren Bagration-Schanzen, benannt nach den kommandierenden Generalen. Doch was die Bauern aufgeworfen hatten, hielt dem zermürbenden Bombardement durch die französische Artillerie nicht stand. Für einen soliden Bau hatte nicht nur die Zeit gefehlt, sondern auch die Überwachung durch Ingenieur-Offiziere. Die Steinschloßgewehre jener Zeit erlaubten bei dem komplizierten Ladevorgang maximal vier Schuß in der Minute, doch inmitten der Schlacht, wo ruhiges Laden selten möglich war, nur zwei. Bei einer Entfernung von weiter als 110 Meter war die Treffsicherheit sehr gering; am wirkungsvollsten war eine in dieser Entfernung abgegebene Salve geschlossener größerer Einheiten. Zwischen den Fronten befanden sich Plänkler, denen die Aufgabe zukam, gezielt die Offiziere des Gegners abzuschießen. Deswegen wurden sie aber auch ihrerseits besonders unter Feuer genommen. Gegen den Angriff von Kavallerie bildete die Infanterie, wenn ihr noch die Zeit blieb, in wenigen Minuten ein Karree: Sie stellte sich in einem Viereck auf, deren erste Reihe mit vorgestrecktem Gewehr (worauf das Bajonett gesteckt war) kniete, so daß die dahinter stehendezweite Reihe über ihre Köpfe hinwegschießen konnte. Gegen eine solche, einem Igel ähnelnde Formation waren die Reiter nahezu machtlos, solange nicht herangeführte Artillerie Breschen geschossen hatte.
Gewehr- und Kanonenkugeln schlugen tiefe Wunden in die Körper, zerfetzten Gesicht und Bauch, rissen Arme und Beine ab. Reserveeinheiten, zum Eingreifen unmittelbar hinter der Front aufgestellt, mußten aus taktischen Gründen zusammenbleiben und boten dann oft der feindlichen Artillerie ein lohnendes Ziel, wie Oberst Lejeune schildert: »Die Kugeln durchfurchten unsere Reihen mit einem Krachen und Pfeifen, das zu beschreiben unmöglich ist. Das Unglück wollte, daß bei diesem so schrecklichen Beginn unsere Reserven, besonders die der Kavallerie, viel zu nah aufgestellt waren, entweder aus Eitelkeit oder aus Sorge, dem Feind einen falschen Eindruck zu geben, man ließ sie nicht die wenigen hundert Schritt sich zurückziehen, um eine weniger exponierte Stellung bei nutzloser Gefährdung einzunehmen. So sahen wir ohne Nutzen für die Armee tausende tapferer Reiter und schöne Pferde fallen, die zu bewahren in unserem Interesse gewesen wäre.«
Am Nachmittag waren alle russischen Schanzen erobert. Die große Rajewski-Schanze im Zentrum ließ Napoleon durch die vereinten französischen, sächsischen und westphälischen Kürassiere und die beiden französischen Carabinier-Regimenter stürmen und einnehmen. Das war möglich geworden, weil die Erdwerke der Schanzen durch pausenloses französisches Artilleriefeuer planiert worden waren und der drei Meter breite und zwei Meter tiefe Verteidigungsgraben durch Tausende von Toten aufgefüllt war, die sechs- bis achtfach übereinanderlagen, so daß die Kavallerie ohne Behinderung darüber hinwegreiten konnte. Zwischen 15 und 16 Uhr war der Sieg der Grande Armée nicht mehr zu nehmen, auch wenn sich die Rückzugsgefechte der Russen noch bis Anbruch der Dunkelheit fortsetzten.
Auch der am 30. August gerade 15 Jahre
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