Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
einem Donnerkeil getroffen. Mein Freund lag links an seines Pferdes Hals, seine Gedärme waren ihm aus dem Körper herausgetreten, der kaum noch an einer Seite zusammenhing; dennoch gab er sich mit den Händen Mühe, solche wieder hineinzuschaffen. Ich ritt hin und sagte: ›Lasse sie nur liegen, du brauchst keine Gedärme mehr!‹, worauf er mich fragte: ›Meinst, ich müsse sterben!‹ – ›Ja‹, sagte ich, ›mache dich mit dem da oben bekannt!‹ und deutete gen Himmel. In diesem Augenblick belustigte er sich noch über seinen Hintermann, der mit ihm verunglückt war und auch noch lebte. Der war zuvor bis zur Schlacht bei den Bagagewagen gewesen; jetzt hörte er ihn beten und rief ihm zu: ›Gelt, da tut es anders als bei den Bagagewagen!‹ Endlich bat er seinen Fourierschützen, seinem Helm den Aufsatz abzuschlagen,er werde dort einen doppelten Napoleon d’or finden; den solle er seiner Schwester bringen und sagen, daß er hier gestorben sei. Hierauf bat er dringend, ihm eine Kugel vor den Kopf zu schießen, daß seine Leiden ein Ende nähmen; ein Soldat wollte dies tun, allein es wurde ihm nicht gestattet.«
Anders als der aus seinem Quartier geflüchtete Kutusow demonstrierte Napoleon vor seinen Soldaten Gelassenheit. Der furchtbare Donner schien ihn wenig zu beeindrucken, beobachtete Major Graf Soltyk, »obgleich manchmal russische Granaten nicht weit von der Stelle platzten, wo er sich befand«, und einige matte Kugeln sogar bis vor seine Füße gerollt seien, »ohne daß er nur im geringsten darauf achtete; bald setzte er sich auf die Erde, bald ging er auf und ab und summte mit halber Stimme eine Melodie, indem er von Zeit zu Zeit maschinenmäßig seine Hand in die Westentasche steckte, um einige Pillen zu nehmen, deren Gebrauch ihm gegen die Erkältung verordnet war. Seine Gesichtszüge verrieten zugleich Nachdenken und Ruhe.«
Doch dieses Bild der Gelassenheit trog und wird von keinem weiteren Augenzeugen bestätigt. Im Gegenteil, Napoleon litt an einer schweren fiebrigen Erkältung, ihn plagten Schüttelfrost und ein quälender Husten, möglicherweise hatte er auch Migräne. Hinzu kam die Qual einer Harnverhaltung. »Er sah blaß und leidend aus«, fiel dem westphälischen Sergeant-Major Carl Hüne auf. Die Männer in seiner Umgebung beobachteten ihren stark veränderten Feldherrn mit Sorge. »Bei ähnlichen großen Schlachten hatte man bis dahin stets eine besonnene Tätigkeit an ihm bemerkt; hier aber nahm man eine schwerfällige Ruhe, eine gewisse untätige Schlaffheit an ihm wahr«, bemerkte sein Adjudant General Philippe de Ségur. »Viele glaubten darin jene Abspannung zu erkennen, welche die gewöhnliche Folge heftiger Gemütsbewegungen ist; andere meinten, es mache nichts mehr Eindruck auf ihn, selbst nicht die gewaltsame Aufregung einer Schlacht. Wieder andere haben die Bemerkung gemacht, daß diese leidenschaftsloseStandhaftigkeit, diese kaltblütige Stimmung großer Männer bei großen Veranlassungen, mit der Zeit in phlegmatische Schwerfälligkeit sich verwandle, sobald einmal das Alter die Triebfedern ihres Geistes abgenutzt habe. Seine eifrigsten Anhänger leiteten diese Unbeweglichkeit von der Notwendigkeit her, seine Stelle nicht oft zu wechseln, wenn man auf einem großen Flächenraume kommandiert, damit man wisse, an welchem Platze die zu überbringenden Nachrichten den Oberbefehlshaber antreffen. Endlich aber gab es auch manche, die mit größerem Rechte seiner geschwächten Gesundheit, einem geheimen Leiden und dem Beginn eines bedenklichen Übels die Schuld gaben.«
Vor allem bestürzte die Männer die Beobachtung, wie wenig von der alten Energie des einst so mächtigen Imperators übriggeblieben war. In seinen früheren Schlachten war er zu Pferd unterwegs gewesen, um die Entwicklung der militärischen Operationen selbst zu sehen und zu beeinflussen, unbeschadet des äußerst gefährlichen Geschoßhagels, den er nicht wahrzunehmen schien, auch traf er wie gewohnt rasch und präzise seine Entscheidungen. Jetzt saß ein kranker, phlegmatischer Kaiser auf einem Klappstühlchen und betrachtete das Geschehen fast unbeweglich durch ein Fernglas.
Oberst Louis-François Lejeune, Adjutant des Generalstabschefs Berthier und selbst Teilnehmer an fast allen Schlachten seit 12 Jahren, hatte Napoleon in dieser Zeit stets aus nächster Nähe erlebt und erkannte seinen Feldherrn nicht wieder: »Heute war er nur zu Pferd gestiegen, um sich auf das Schlachtfeld zu begeben; dort saß er
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