Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
Vom Netzwerk:
alt gewordene Krefelder Trompeter Carl Schehl gehörte zu denen, die am Kampf um die Rajewski-Schanze teilgenommen hatten. Er überlebte, doch seinem Schimmel war das rechte Vorderbein zerschmettert worden: »Als ich mich wieder aufgerichtet hatte und neben meinem lieben Tier stand, das vor Schmerzen stöhnte und mich dabei doch noch so treu anblickte, hätte ich beinahe sehr unmilitärisch geweint. Ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich ihn wiederholt umarmte, ja sogar küßte. Weil mir aber nicht lange Zeit zum Bedenken blieb, so faßte ich einen raschen Entschluß, holte eine meiner Pistolen aus dem Halfter und schoß ihm eine Kugel durch den Kopf, welche so gut traf, daß seine Leiden augenblicklich endeten.« Weitaus schwerer wog für ihn ein anderer Verlust: »Nun kamen die Verwundeten von unserm Regimente, teils zu Fuß, teils noch auf ihren Pferden sitzend, teils aber auch getragen. Unter den letzteren mein unvergeßlicher Eskadronschef von Berckheim, ein bildschöner, beinahe sechs Fuß großer Mann von 30 Jahren, ein geborener Elsässer, der freundlichste und gütigste Offizier, den ich jemals kennengelernt habe. Es war ihm eine Kartätschen-Kugel in den Unterleib geschlagen und steckte noch darin. Der Regimentsarzt wollte versuchen, die Kugel herauszuziehen. Er aber litt es nicht und sagte: ›Lassen Sie mich, ich fühle, daß ich sterben muß.‹ Die Carabiniers, welche ihn gebracht hatten, mußten zum Regimente zurück, und ich blieb bei ihm, nachdem wir ihn auf etwas Stroh gebettet und ihm meinen großen Sattel unter den Kopf gelegt hatten. Der arme Mann lebte noch eine volle Stunde, während welcher er die fürchterlichsten Schmerzen litt. Er schenkte mir seine goldene Uhr zum Andenken und drückte mir dabei zum Abschiede freundlich die Hand. Als er die Augen für immer geschlossen hatte, weinte ich bitterlich, denn in diesem Herrn von Berckheim hatte ich meinen zweiten Vater verloren.«
    Vergebens hatten alle Marschälle und Generale Napoleon bestürmt, die noch völlig intakte Garde einzusetzen, um denRussen den Todesstoß zu versetzen, was aber Napoleon entschieden verweigerte. Er wollte nicht seine letzte Reserve aufs Spiel setzen. Das aber ermöglichte Kutusows Armee den ungestörten Abzug, bei dem sie nur 800 Gefangene und 20 zerschossene Kanonen zurückließen. Die Überlebenden unter den Franzosen kümmerten sich zunächst einmal wenig um die Verwundeten, die noch zu Tausenden unversorgt auf dem Schlachtfeld lagen. Wer unverletzt geblieben war, suchte nach Nahrung, denn die meisten hatten am Morgen mit leerem Magen den Kampf begonnen. Nun durchsuchten sie die Tornister der toten Russen und fanden darin Reis, Mehl, Salz, Zwiebeln und Wodka, wie Hauptmann von Brandt und Wachtmeister Peter berichten. Heinrich von Roos erlebte, wie seine Kameraden auf der Suche nach Lebensmitteln in einem nahe gelegenen Dorf mit gleichfalls suchenden Russen zusammengetroffen waren; keiner hatte den anderen behindert, geschweige angegriffen, denn die Männer beider Seiten waren viel zu erschöpft dafür.
    Nachdem die geschlagenen Russen in vorbildlicher Ordnung abgezogen waren, biwakierten die Soldaten der Grande Armée auf dem Schlachtfeld. »Wir waren alle bis zum Tode ermüdet«, schreibt Carl Hüne. »An Essen wurde wenig gedacht; es war auch leider nichts vorhanden, aber Ruhe war um so nötiger, und es war deshalb ein jeder darauf bedacht, sich für die Nacht ein Lager zu bereiten, wozu die in großer Menge vorhandenen Wacholderbüsche sehr von Nutzen waren. In einiger Entfernung von unserem Biwak fanden sich hier zwischen den Büschen hohe Haufen abgenommener Glieder, Arme, Beine und Hände. Hier mußte wohl ein feindliches Lazarett seinen Platz gehabt haben, doch wohl schon vor der Schlacht, weil manche Glieder schon in Verwesung übergingen.« Wegen der Dunkelheit war es unmöglich, Verwundete zu bergen und zu versorgen, ohnehin fehlte es an Ärzten und Sanitätspersonal, ebenso wie immer an Wagen zum Transport. »Die Szenen des Jammers und Elends, die sich hier auf Schrittund Tritt darboten«, schreibt Hauptmann Johann von Borcke, »spotten jeder Beschreibung, das Ächzen und Stöhnen der Verstümmelten und Sterbenden, das uns selbst dann noch verfolgte, als wir uns etwas weiter entfernten, und das besonders bei Nacht schrecklich für das Ohr war, erfüllte das Herz mit Grausen. Ich habe gesehen, daß Soldaten solchen Unglücklichen, die weder leben noch sterben konnten, auf ihr Bitten mit

Weitere Kostenlose Bücher