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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Haus des Fürsten Kutusow.« Das bestätigt Kutusows Ordonnanzoffizier Johann von Dreyling: »Es dämmerte gerade, als der Feind seine erste Salve abgab. Eine der ersten Kanonenkugeln flog über unsere Köpfe hinweg und zerschmetterte das Dach des Hauses, in dem Kutusow Quartier bezogen hatte.« Der russische Oberbefehlshaber, der wegen seiner gewaltigen Korpulenz nicht mehr fähig war, ein Pferd zu besteigen, habe sich daraufhin schleunigst in einem Wagen ins sichere Hinterland fahren lassen. Dort war er zwar vor feindlichem Feuer geschützt, konnte aber von den Vorgängen auf dem Schlachtfeld nichts mehr sehen und war auf Berichte angewiesen.
    Eine ungeheure Kanonade setzte nun ein: 624 russische und 587 französische Geschütze überschütteten einander mit einem so bisher noch nicht erlebten Geschoßhagel. Vier Geschütztypen standen einander auf beiden Seiten gegenüber: Vierpfünder, Achtpfünder, Zwölfpfünder und Haubitzen. Das bedeutet, je nach Kaliber wurden Eisenkugeln im Gewicht von 4,8 und 12 Pfund verschossen. Die praktische Tragweite, das heißt die Entfernung, bei der eine Kugel noch wirksam war, betrug 800 Meter bei den Vierpfündern, 1500 Meter bei denAchtpfündern und 1800 Meter bei den Zwölfpfündern. Auf Infanterie oder attackierende Kavallerie wurden in einer Entfernung zwischen 300 und 500 Meter Kartätschen verschossen, eine Ladung von scharfkantigen Eisenstücken, die wie Schrot wirkte. Haubitzen verschossen Granaten mit einer Tragweite zwischen 1200 und 700 Meter. Unter einer Granate verstand man eine mit Pulver gefüllte Eisenkugel mit einem Zünder, der wie ein Docht aus der Kugel herausragte und beim Abschuß brannte. Erreichte der brennende Zünder die Pulverladung, so explodierte die Eisenkugel und verstreute ihre Splitter in einem Radius von 20 Metern. Der Zünder konnte mit Zeitverzögerung so eingestellt werden, daß die Granate entweder vor oder in einer Stellung oder über ihr explodierte und so von oben einen Splitterregen auslöste. War der Untergrund hart genug, dann konnten eiserne Vollkugeln der genannten Kaliber in einer niedrigen Flugbahn abgeschossen werden, was die schweren Kanonenkugeln nach dem ersten Aufprallen weiterspringen ließ und alles in ihrer Bahn Befindliche niedermähte. Hier sprach man von »ricochettierenden« Kugeln (von ricocher = abprallen).
    Das Duell von mehr als 1000 Geschützen, das an diesem 7. September fast zehn Stunden ohne Unterbrechung dauern sollte, empfand Major Graf Soltyk als so furchtbar, daß es »mehr den auf einmal losgebrannten Ladungen von Kriegsschiffen glich als einem Artillerie-Feuer zu Lande« und er niemals »ein gleiches Feuern gehört« habe. Regimentsarzt Heinrich von Roos kam es »wie Donner und Erdbeben« vor. Wachtmeister Benedikt Peter sagte zu einem Kameraden: »Das hört man ja in Deutschland brausen, nicht allein hier!«
    Einer der ersten Toten an diesem Morgen war der berittene Jäger Rösch aus Neckarrems, ein Freund Peters, der ganz in seiner Nähe geritten war. Rösch hatte ihm schon am Vortag seine Todesangst gestanden und die Vorahnung, den kommenden Tag wohl nicht zu überleben. Worauf Peter ihm geantwortet hatte: »Du Kleingläubiger, hängst du so sehr am Leben?Was bindet dich daran? Unser schöner Beruf, unser mörderisches Handwerk? Jetzt sind wir achthundert Stund’ von der Heimat entfernt, ungefähr vierhundert Stund’ ins russische Reich eingedrungen, haben während dieser ganzen Zeit in keiner menschlichen Wohnung übernachtet, sondern stets auf blutigen Schlachtfeldern; unsre Nahrung ist die der Füchse und Raben, unser Getränke schlammiges Wasser – hängst du so sehr an diesem Leben und hast kein Vertrauen zum allmächtigen Gott, der uns ins Dasein gerufen hat? Was mich betrifft, so habe ich meine Rechnung abgeschlossen: Ich bekenne, daß ich ein Sünder bin, aber ein sehr gewöhnlicher und kein Verbrecher; ich sterbe gerne, wenn es Sein Wille ist, und habe nur den Wunsch, daß ich, wenn mir morgen mein Los bestimmt ist, nicht verstümmelt in meinem Blute liegen gelassen, sondern gleich getötet werde!« Das habe seinen Freund »beruhigt«. Wenige Stunden später waren sie mitten in der Schlacht. Rösch »ritt einen schönen Weißschimmel aus eines russischen Edelmanns Stall«, erinnert sich Peters. »die Kugel machte vor dem Pferd den letzten Aufschlag, schlagte ihm den Oberteil des Kopfes weg und meinem Freund (…) die rechte Seite des Oberleibs durch. Beide stürzten sogleich zusammen wie von

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