Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
abgewandtem Gesicht durch eine Kugel den Tod gaben. Bald betrachteten sie das als eine Pflicht des Mitleids und wurden von den Offizieren dazu angeregt, solche, die nicht mehr zu retten waren, aufzusuchen und von ihren Qualen zu befreien.« Dies geschah sogar noch einige Tage nach der Schlacht.
Am nächsten Morgen bestieg der kranke Napoleon, der wegen einer hinzugekommenen Kehlkopfentzündung kaum noch sprechen konnte, seinen Schimmel und ritt, wie er es immer getan hatte, über das »Feld der Ehre«, wie man damals zu sagen pflegte. »Der Anblick, den das Schlachtfeld bot, war schrecklich«, erinnert sich Napoleons Kammerdiener Constant Wairy, der seinen Herrn auch hier begleitete. »Die meisten Toten waren mehrfach verwundet; man konnte daraus sehen, mit welcher Erbitterung gekämpft wurde. Als der Kaiser das Schlachtfeld besuchte, war das Wetter wieder sehr schlecht. Es regnete bei heftigem Winde. Die armen Verwundeten, welche noch nicht nach den Verbandsplätzen hatten geschafft werden können, erhoben sich ein wenig vom Boden, um zu zeigen, daß sie nicht tot wären. Einige riefen sogar ›Es lebe der Kaiser‹. Die von russischen Kugeln getroffenen Toten zeigten große Wunden, was daher kommt, daß die Gewehre der Russen ein weit größeres Kaliber als die unserigen hatten. Ich bemerkte einen Fahnenträger, welcher sich in die Fahne wie in ein Leichentuch gehüllt hatte. Der Kaiser hielt verschiedene Male, wenn er an einer durch Wunden völlig entstellten Leiche vorüberkam, die Hand vor die Augen.«
Christian Wilhelm von Faber du Faur: Bei Waluewa, den 8. September 1812. – Französische Grenadiere bewachen russische Gefangene nach der Schlacht von Borodino. Sie wurden nach Preußen gebracht, doch bei der mangelhaften Ernährung erreichten nur die wenigsten das Ziel.
Napoleons Ordonnanzoffizier Philippe de Ségur war ebenfalls dabei: »Bei dieser Menge von Leichnamen, über die man schreiten mußte, um Napoleon zu folgen, verletzte zufällig der Huf eines Pferdes einen unglücklichen Verwundeten und entriß ihm ein letztes Schmerzens- und Lebenszeichen. Der Kaiser, der bis zu diesem Augenblicke still wie sein Sieg gewesen war und dem der Anblick so vieler Schlachtopfer das Herz zusammenpreßte, machte jetzt seinen Gefühlen Luft und milderte seinen Schmerz durch Ausrufe des Unwillens und die sorgfältigste Verpflegung dieses Unglücklichen. Um Napoleon zu besänftigen, machte ihm einer der Umstehenden bemerklich, es sei nur ein Russe. Er aber versetzte mit Heftigkeit: ›Nach dem Siege gibt es keine Feinde mehr, sondern nur Menschen!‹« Ein schönes lesebuchreifes Zeichen von Menschlichkeit angesichts eines schier unvorstellbaren Gemetzels. Denn nach zehn Stunden permanenten Tötens bedeckten das Schlachtfeld 45 000 bis 50 000 tote und verwundete Russen und etwa35 000 tote und verwundete Soldaten der Grande Armée. Dies sind die jüngsten Schätzungen der Historiker, vor allem der russischen. Die genauen Zahlen wird man nie wissen. Schwer waren auch die Verluste an Generalen. Von Napoleons Armee starben acht Generale auf dem Schlachtfeld, vier erlagen ihren tödlichen Verletzungen einige Wochen später und 37 wurden verwundet. Bei den Russen starben fünf Generale während der Kämpfe, vier – darunter Bagration, Kommandeur der 2. West-Armee – erlagen etwas später ihren tödlichen Verletzungen und 23 wurden verwundet. 239 Häuser und Güter wurden auf dem Schlachtfeld und in der näheren Umgebung zerstört.
Wie schon nach der Schlacht von Smolensk bekamen auch jetzt wieder die Westphalen den Befehl, unterstützt von württembergischen Einheiten, den Schauplatz des riesigen Massakers »aufzuräumen«. In den etwa vier Wochen ihres Aufenthalts verbrannten sie einige tausend Leichen. Im Frühjahr 1813 sollte dann die russische Regierung den Bauern aus der Umgebung von Borodino befehlen, alle Opfer zu begraben oder zu verbrennen. Gefunden wurden die Überreste von 52 048 Leichen und 41 700 Pferden.
Es dauerte Tage, bis man sich überhaupt ein Bild von der Zahl der Verwundeten machen konnte. Major Graf Soltyk spricht von 12 000 auf französischer Seite und 25 000 auf russischer. Man brachte sie in das nahe dem Schlachtfeld gelegene Kloster Kolotzkoi, das während der Kämpfe unbeschädigt geblieben war und etwa 6000 Opfer aufnehmen konnte, und zu Standorten in Moshaisk und dessen Umgebung. Falls die von Soltyk genannten Zahlen stimmen, so berücksichtigen sie nicht jene Tausende, die mangels
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