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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Moskau, Graf Rostoptschin, die Räumung der Stadt. Fjodor Wassiljewitsch Graf Rostoptschin, der das vorausgesehen hatte, war längst dazu übergegangen, alle Behörden und Archive zu evakuieren. Um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, ließ er bekanntgeben, man brauche Platz für die Armee und ihre Verwundeten und Kranken.
    Unter den Russen verbreitete sich daraufhin immer mehr Ausländerhaß. Träger nichtrussischer Namen sahen sich plötzlich als Verräter und Agenten der Franzosen verdächtigt, so Major Woldemar von Löwenstern, Adjutant Barclays, den man in Moskau verhaftete, dann aber wegen erwiesener Unschuld gehen lassen mußte. Barclay de Tolly selbst wurde nach der Schlacht von Borodino entlassen und auf seine Güter in Livland geschickt (er stammte aus einer vor langer Zeit zugewanderten schottischen Familie). Bagration, bei Borodino tödlich verwundet, galt schon als verdächtig, weil er georgischer Abstammung war, und wenn einer Löwenstern oder Schubert hieß (und wie viele Generale und höhere Offiziere trugen nicht deutsche Namen), so war er schon von vornherein verdächtig. Diesen »Ausländern« – es handelte sich um Familien, die schon seit Generationen in Rußland lebten und sich selbstverständlich auch als Russen fühlten – gab man die Schuld am Rückzug, denn »echte Russen« hätten selbstverständlich schon an der Grenze Napoleon geschlagen und sich niemals bis Moskau zurückgezogen, so die Meinung des Volkes.
    Dieses Mißtrauen machte sich Graf Rostoptschin nun zunutze, indem er die Bürger Moskaus zu erhöhter Wachsamkeit aufforderte und sie besonders vor Ausländern warnte.Zugleich aber untersagte er jegliche Selbstjustiz; alle Verdächtigen würden von ihm persönlich überprüft, um an ihre »Mitschuldigen« heranzukommen. Das war klug gehandelt, denn anders wäre es angesichts so vieler in Moskau lebender Ausländer wahrscheinlich zu blutigen Ausschreitungen gekommen. Angeblich soll nur ein einziger Fall von Lynchjustiz vorgekommen sein. Er betraf einen jungen Kaufmann mit dem urrussischen Namen Wereschtschagin, den man beim Lesen eines französischen Buches überrascht hatte.
    Moskau mußte verbrannt werden, um der Grande Armée jede Hoffnung auf Winterquartiere zu nehmen; Rostoptschin wollte die Einwohner allerdings nur in kleinen Schritten darauf vorbereiten. »Der Weg, den Graf Rostoptschin einschlug, war ganz auf den russischen Nationalcharakter berechnet«, meint Friedrich von Schubert vom russischen Generalstab, »und wenn er nicht vorher mit Kutusow über seine Schritte übereingekommen ist, so haben diese beiden schlauen Männer sich doch so vollkommen verstanden oder erraten, einander so trefflich in die Hand gespielt bei der Komödie, die der eine mit der Armee, der andere in der Stadt aufführte, als wenn das Ganze vorher abgemacht worden wäre, obgleich es den Anschein hatte, alles sei nur nach und nach durch die Ereignisse herbeigeführt worden. Hätten sie erraten lassen, daß sie beide die Unmöglichkeit einsahen, Moskau zu retten, und nach reiflicher Überlegung längst den Entschluß gefaßt hatten, es dem Feinde zu übergeben, so wären Tausende von Stimmen in der Armee und im Volk dagegen laut geworden; die Vernünftigen hätten sie des Mangels an Energie, an Mut, an Talent geziehen, die Unvernünftigen des Verrats angeklagt. Gerechtigkeit hätte ihnen niemand widerfahren lassen, vielleicht nicht einmal ihr Monarch und die Nachwelt. Es mußte also den Schein haben, als wären sie fest entschlossen, Moskau bis auf den letzten Mann zu verteidigen, und als hätten die Umstände sie nur im letzten Augenblick gezwungen, unwiderstehlich gezwungen, es gegen ihren Willen zu verlassen– und dieses mußte in Ordnung und ohne Störung durch Volksaufläufe geschehen.«
    Zur Vorbereitung der großen Brandstiftung ließ der kluge Gouverneur überall leicht brennbare Stoffe ausbringen: »Dem Volk sagte er, er lasse einen großen Luftballon zurichten, der von oben diese brennenden Materialien auf die französische Armee herunterschleudern sollte. Durch solche Ansprachen und Vorspiegelungen gelang es Rostoptschin, die Bevölkerung Moskaus einigermaßen zu beruhigen, alle Exzesse zu vermeiden, die Stadt von allen Kranken und Blessierten zu säubern, die wertvollsten Gegenstände ins Innere zu senden, bis unsere Armee vor Moskau erschien«, so Friedrich von Schubert.
    Und dann verließen die Menschen ihre Stadt; von den etwa 200 000 Einwohnern blieben nur 20 000 (meist

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