Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
wurden von einer Abteilung feindlicher Infanterie bewacht, welche zurückgeblieben war und in diesem Augenblick sich mit Plündern der Kaufläden in der Nachbarschaft und mit Einschlagen der Branntweinfässer beschäftigte. Das Vertrauen auf unsre Überlegenheit war damals so groß, daß ich, obwohl ganz allein, keinen Augenblick anstand, abzusteigen: Nachdem ich mein Pferd einem von den Polen anvertraut hatte, der heruntergelaufen kam, trat ich in das Haus, wo ichmich bald von etwa dreißig russischen Soldaten umgeben sah, die vollkommen betrunken waren; sie dachten gar nicht daran, ihre Gewehre zu ergreifen, welche an der Mauer des Hausflurs standen. Getreu der Ehrfurcht, welche der russische Soldat vor dem Rang hat, nahmen sie beim Anblick meiner Epauletten ihre Feldmützen ab und richteten sich, so gut sie vermochten, wie es die Soldaten unter dem Gewehr vor dem Offizier tun. Ihren eigenen Offizier hätten sie nicht besser empfangen können. Da sich die Eigentümer des Hauses von der Habsucht dieser Nachzügler befreit sahen, beeilten sie sich, mir einige Erfrischungen anzubieten, die mir sehr willkommen waren, und die Polen umarmten mich mit überströmender Freude über das Glück, auf so unverhoffte Weise die Freiheit wiedererlangt zu haben. Da ich indes keine Zeit verlieren wollte, stieg ich schnell wieder zu Pferde; die Geiseln nahmen die Gewehre der Russen und folgten mir, so wie etwa fünfzehn von jenen auf diese Weise entwaffneten russischen Soldaten; die übrigen hatten schon die Flucht ergriffen.«
Moskau war voller russischer Nachzügler. General Gaspard Gourgeaud, einer der Adjutanten Napoleons, betrat den Kreml, nur von einem Unteroffizier begleitet, und stieß dort auf 60 Kosaken, die sich ihm augenblicklich ergaben. Auch hier genügte der Anblick einer Offiziersuniform. Spät abends hörten die polnischen Soldaten des 5. Armeekorps zu ihrem Erstaunen plötzlich Trommelschlag. Es war eine russische Ersatzabteilung von 400 Soldaten, unterwegs zum Kreml, die nicht mitbekommen hatte, daß Moskau längst geräumt war. Sie ergaben sich, völlig überrascht, auf der Stelle. Gefangen wurde auch ein russischer General, der völlig ahnungslos in einer Droschke unterwegs war.
Napoleon nahm Quartier im Kreml, und seine Soldaten begaben sich zur Ruhe. In der völlig unversehrten, wie ausgestorben wirkenden Stadt wartete zweifellos reiche Beute, und man könnte sich endlich nun jeden Tag richtig satt essen. Die Zeit der Leiden hätte ein Ende.
10. DAS GROSSE FEUER
»Der Himmel ist in der Richtung nach Moskau ganz gerötet, und eine ungeheure Rauchsäule steigt auf. – Es ist ein schrecklicher Gedanke, daß diese Stadt dasselbe Schicksal wie alle Orte von Smolensk bis hierhin haben könnte! – Wie wären da alle unsere Wünsche vernichtet!« So voller Zuversicht hatte der westphälische Major von Loßberg diesen Brief noch am Mittag jenes 15. September in Galitzin begonnen, der nun, »abends neun Uhr«, mit diesem Schreckensruf an seine Frau schloß. Niemand wußte genau, wann und wo das Feuer ausgebrochen war, hier widersprechen sich die meisten Augenzeugen. Regimentsarzt Heinrich von Roos nennt die Nacht vom 14. zum 15. September: »Ich kann nicht sagen, ob in der Mitte der Stadt oder am Ende derselben, denn in der Nacht trügt man sich leicht, doch ich glaube ersteres, entstand plötzlich eine Explosion von so schreckbarer Gewalt, daß bei jedem, der dies mit ansah und hörte, der erste Gedanke der sein mußte, es sei ein Munitionsmagazin, ein Pulverturm in die Luft gesprengt oder eine sogenannte Höllenmaschine von sehr großem Umfang losgebrannt. Aus einem plötzlich entstandenen großen Flammenfeuer stiegen in großen und kleinen Bogen Feuerkugeln auf, so als ob Bomben und Haubitzgranaten in Menge und zu gleicher Zeit entzündet worden wären, und sprühten ihr brausendes Feuer unter furchtbarem Krachen weit um sich her. Diese Furcht und Schrecken weit um sich her verbreitende Explosion dauerte drei bis vier Minuten und schien uns ein Signal zum Beginnen des Brandes dieser Stadt zu sein. Anfänglich blieb auf dieser Stelle das Feuer allein sichtbar, aber nach wenigen Minuten schon sahen wir in verschiedenen Gegenden der Stadt Feuerflammen aufsteigen, zählten mit dem ersten Anfang deren achtzehn, und schnell aufeinander folgten mehrere.
Bei diesem Anblick wurden wir still und sahen einander verwunderungsvoll an; einer schien immer an dem andern zubemerken, daß er dieses für eine schlimme und übel
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