Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Ausländer) zurück, und 180 000 zogen mit 65 000 Fuhrwerken aus. Eduard von Löwenstern, gerade vom Typhus genesen, beobachtete den gewaltigen Exodus aus seinem Wagen: »Die Gassen und Plätze der Stadt winmelten von Einwohnern, die mit blassen, erschreckten Gesichtern ihre Habe und ihr Gut retteten; schon sah man den Anfang der Greuel, die hier stattfinden sollten. Vollgeladene Kutschen und Fuhrwagen, Droschken, mit Pferden und Ochsen bespannt, Reiter und Fußgänger drängten und stießen sich mit Geheul und Wehklagen in buntem Gewühl durcheinander. Weiber und Kinder, Greise, die seit zwanzig Jahren ihren Sorgenstuhl nicht verlassen hatten, schleppten sich keuchend, ihre geringe Habe auf dem Rücken, durch die wogende Menge. Betrunkene Soldaten, freigelassene Bösewichte und Gesindel stürmten einige Kabaks (Schnapsschenken) und jubelten bei den zerschlagenen Branntweinfässern. Kaufleute warfen ihre Waren in die Moskwa, entlegene Buden und Häuser wurden geplündert. Man konnte sein Auge wenden, wohin man wollte, überall sah man die größte Not, Verzweiflung, Unordnung oder die abscheulichste Ruchlosigkeit. Und alles dieses sollte nur die Einleitung fürdas schreckliche Trauerspiel sein, zu dem Moskau die Szene gab. Ungefähr zwanzig Werst (1 Werst = 1,066 km) von Moskau machten wir und tausend andere Flüchtlinge halt.«
Der Bevölkerung folgte die Armee. Marschall Murat, der die französische Kavallerie-Avantgarde kommandierte, hatte mit den Russen einen Waffenstillstand von 24 Stunden vereinbart, um sie ungestört abziehen zu lassen, da die Russen gedroht hatten, andernfalls würden sie die Stadt anzünden. Am 14. September setzten sich die russischen Regimenter frühmorgens in Marsch, schreibt Friedrich von Schubert: »Was war das für ein trauriger Anblick! Die ganze Stadt tot, alle Fenster und Türen verschlossen, kein Mensch auf den Straßen, nur vor den Kirchen ein paar alte Leute, die auf den Knien lagen und beteten. Eine Totenstille, keine Glocke tönte, in Moskau, wo sonst ständig Hunderte von Glocken erschallten! Nur den Widerhall unserer eigenen Tritte hörte man in den öden Straßen. Selbst die Soldaten konnten sich des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, sondern marschierten schweigend ohne den geringsten Lärm. Wie sollte es auch anders sein? In den Augen eines jeden Russen war Moskau ja die heilige Stadt, wurde von allen ihr Mütterchen genannt und als ein solches von ihnen geliebt; sie trennten sich von ihm wie das Kind von dem elterlichen Hause und sahen in seinem Verlust den Ruin Rußlands. Es war ein schwerer, sehr schwerer Morgen! Als wir einige Werst von Moskau waren, fingen wir an, die endlosen Züge der Auswanderer einzuholen, und obwohl dieser Anblick höchst traurig war, so wurde uns doch leichter ums Herz; es war doch wieder Bewegung da und nicht die Grabesstille der Stadt.«
Murats Reiterei folgte den Abziehenden in Sichtweite. Der die Nachhut kommandierende russische Offizier machte Murat Komplimente wegen seiner Tapferkeit, warnte ihn aber vor allzu großer Waghalsigkeit: »Wir hegen eine solche Bewunderung für Sie, daß unsere Kosaken sich das Wort gegeben haben, auf einen so tapferen Fürsten nicht zu schießen. Abereines Tages könnte Ihnen doch einmal ein Unglück zustoßen!« Nachdem die Russen abgezogen waren, begann Murats Kavallerie-Avantgarde, ohne einen Schuß abzufeuern, von der Stadt Besitz zu nehmen.
»Ist das wirklich Moskau?«, hatte 24 Stunden zuvor Carl von Wedel wie viele andere Soldaten der Grande Armée begeistert ausgerufen. »Ja es ist Moskau, das langersehnte! Tausendstimmiger Jubel ertönte durch die Glieder. Wir sind am Ziele! Der Krieg hat ein Ende. Die versprochenen Winterquartiere liegen vor uns. – Alle Mühseligkeiten, alle Not, alle Leiden waren vergessen. Wir, die wir uns täglich tapfer unter Murats Augen geschlagen haben, wir, deren Reihen auf die Hälfte herabgesunken sind, wir werden unter Murats Schutz in Moskau bleiben. Die Truppen hinter uns, die wenig vom Kriege gelitten haben (das glaubten wir), werden in die Umgegend gelegt werden. Unser warten jetzt Belohnungen, sie werden kaiserlich ausfallen, nach Verhältnis unserer Mühen und Gefahren. Unser warten Beförderungen, sie müssen bedeutend sein, denn es sind ja so viele Vakanzen. Aus Mühe und Not wird jetzt Freude und Überfluß erwachsen. – So war unser Gedankengang, so redeten wir uns zu, als wir die ungeheure Stadt mit ihren vergoldeten Türmen, mit ihren rot und schwarz
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