Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Regen gegeben, vor allem empfindlich kühle Nächte. Die von den Soldaten gemachten Wetternotizen sind widersprüchlich. Heinrich von Brandt und François Bourgogne nennen den 27. Oktober als ersten Frosttag, am 29., so Bourgogne, sei etwas Schnee gefallen, doch von Brandt und Caulaincourt meinen, das sei am 3. oder 4. November gewesen. Regimentsarzt Groß und Christian von Martens nennen dafür die Nacht vom 12. zum 13. November. Bis Anfang November war das Wetter jedenfalls wechselhaft; starker Schneefall und Tauwetter lösten einander ab, die Temperaturen lagen nur wenig unter dem Gefrierpunkt; am meisten litten die Soldaten unter einem eisigen, schneidenden Nordwind.
Noch ehe die Überreste der Grande Armée Smolensk erreichten, herrschte Chaos, jegliche Ordnung verfiel, und Roheit, Brutalität und Grausamkeit nahmen zu: »Da auf diesen Märschen schon die rückwärts befindlichen Bagagewagen, viele Fourgons (Packwagen) , Pulverwagen, Kanonen etc. demoliert und verbrannt wurden, so gingen auch die Lebensmittel, deren man sich nur auf 14 Tage versehen hatte, zu Ende«, schreibt der württembergische Oberleutnant ChristophLudwig von Yelin, »es trat der größte Mangel ein, der noch fürchterlicher erschien und werden mußte, da auf der schon im Hinweg verheerten Straße durchaus nichts mehr zu finden und zu hoffen war. Viele suchten sich mit wenigem Zucker durchzubringen und sparten diesen mit außerordentlichem Geiz, allein dieses Hilfsmittel hielt nicht lange an, und auch solche mußten sich endlich mit Pferdefleisch begnügen. Anfänglich schlachtete man noch die elenden, abgemergelten Tiere, d. h. man schoß ihnen eine Kugel durch die Brust. Es gab auch noch zuweilen Salz und Gewürz, das aber auch bald aufhörte; an das Erschießen der Tiere dachte auch kein Mensch mehr, sondern man schnitt sich an den noch lebenden Tieren seinen Teil ab, die mit weit auseinander stehenden Füßen, oft an allen Seiten blutend – zitternd und betäubt noch stehend zu sehen waren, bis sie endeten und zusammenstürzten. Die Franzosen bemächtigten sich vor allem der Zungen, und ohne dem Tier den Herzstoß zuerst zu geben, schnitten sie ihnen diese aus bei noch lebendem Leibe; es gibt gewiß nichts Abscheulicheres wie auf diesem Rückzuge die Menschen gegen Menschen und gegen Tiere handelten. (…)
Die langen Nächte waren fürchterlich, das grüne Holz wollte nicht brennen, und bis dieses herbeigeschafft war, konnte man es kaum aushalten, viele erfroren bei dieser Arbeit, an der die höchsten Offiziere teilnehmen mußten, denn wer beim Feuer sein wollte, mußte auch dazu beigetragen haben. Oft kam es, wenn das Feuer angezündet war, daß Stärkere kamen und die ersteren davonjagten, wobei es öfters zu Mord und Totschlag kam.
Diejenigen, welche während des Marsches zusammensanken, blieben auf der Straße liegen, die nächsten Fuhrwerke gingen über sie weg, noch ehe sie ganz tot waren, und zermalmten sie; kein Mensch nahm sich die Mühe, solche Unglückliche auf die Seite zu schaffen oder aus dem Weg zu ziehen, man beraubte sie sogar ihrer Kleider, noch ehe sie tot waren. (…)
Die Straße war ganz mit Eis überzogen, und die entkräftetenPferde, welche für solche Fälle nicht einmal scharf beschlagen waren, konnten kaum leer weitergebracht werden, die kleinste Anhöhe war jetzt ein unübersteigliches Hindernis; Kanonen, Munitionsbagage, Marketenderwagen etc., eine Menge von Moskau mitgenommene Chaisen, Droschken etc. blieben stehen, weil man schon nicht mehr ans Verbrennen dachte, und kam in die Hände der Russen.
Jenen geflüchteten französischen Familien, denen Napoleon wieder Schutz in Frankreich versprach und die nun aus Furcht vor den Russen mit der Armee zogen, wurden ihre Pferde ebenfalls abgenommen und ihre Wagen geplündert, die auch gleich den andern stehenblieben, sie aber konnten nichts anderes, als den Marsch, wie wir alle, zu Fuß in der größten Not, soweit ihre Kräfte reichten, mitzumachen. Eines Abends saß ich an einem kleinen Biwakfeuer, als sechs solcher unglücklichen Menschen kamen und mich baten, sich zu mir an mein Feuer setzen zu dürfen. Gerne willfahrte ich ihrer Bitte, denn mein Herz blutete, solche höchst Unglückliche zu sehen. Es war ein alter Mann, der Großvater mit ganz grauen Haaren, der Sohn, seine Frau mit einer erwachsenen Tochter und noch zwei kleinere Geschwister, die alle nichts hatten, als wie sie gingen, keine guten Schuhe, ganz leichte Kleider, weil ihnen, wie sie sagten,
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