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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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bei der Wegnahme ihrer Pferde auch alles geraubt wurde. Ihr beständiges Jammern und Weinen über ihre beispiellose Lage, die mir weit schrecklicher dünkte als die meinige, machte mich diese ganz vergessen, und gerne würde ich ihnen mit dem Letzten geholfen haben, allein ich hatte selbst nichts, da mir kurz vorher mein kleiner Vorrat von gemahlenem Kaffee und etwas Zucker ebenfalls gestohlen wurde.
    Obgleich ich bei den bewaffneten wenigen Württembergern noch immer eingeteilt, so konnten wir uns doch auch keine andern Lebensmittel verschaffen als gefallenes Pferdefleisch, da auch die Hunde, die noch hin und wieder bei der Armee gesehen wurden, meistens schon aufgezehrt waren,wie es auch dem meinigen ergangen sein mag. Eines Abends streifte ich herum, um mir ebenfalls, auf welche Art es gewesen wäre, etwas zu suchen, und gewahrte einen schönen weißen Pudel; ich machte nebst einem Freund sogleich Jagd auf ihn, er kam in unsere Gewalt und hatte schnell geendet. Das Fleisch teilten wir brüderlich, das uns auf längere Zeit gute Dienste tat; als dieses aber aufgezehrt war, kam auch das Pferdefleisch wieder an uns, was aber abscheulich war, weil man es nicht gehörig zubereiten konnte.
    Die Zubereitung eines solchen Pferdebratens war ganz einfach; hatte man ein Stück von einem gefallenen Pferd, steckte man es an einen gespitzten Stecken, Degen oder Bajonett und hielt es übers Feuer, ohne Salz, Schmalz und Gewürz, woran es allen fehlte. Durch die Hitze wurde das kranke Fleisch ganz ekelhaft, es tropfte eine gelbe Brühe wie Eiter heraus, bis es nach und nach zu Kohle verbrannte, worauf man es gierig verschlang: Ekel hatte man keinen mehr, das für die Schweine bestimmte Schlechteste wäre willkommen gewesen, man war froh, nur etwas zu haben.«
    Hatten sich die Russen bisher darauf beschränkt, Napoleons Rückzug nur von Kosakenschwärmen verfolgen zu lassen, so griffen sie am 3. November mit weit überlegener Kavallerie und Artillerie das 1. und 4. Armeekorps bei Wjasma an. Der Angriff galt der Nachhut, denn Napoleon hatte mit seiner Garde schon am Tag zuvor die Stadt verlassen. So disziplinlos die Grande Armée bereits war: Im Abwehrkampf gegen den Feind verband sie noch die militärische Ordnung und das Gefühl der Zusammengehörigkeit, zumal ihr Kaiser in der Nähe war. »Wir zogen bei frischer kalter Luft und heiterem Sonnenschein zur Mittagszeit aus Wjasma«, schreibt Regimentsarzt von Roos. »Napoleon kam zu Pferde im grauen Überrock; doch hatte er heute sein Kaiserhaupt nicht mit dem Hut, sondern mit einer warmen Mütze, grün mit grauem Pelzwerk, bedeckt. Ihm zur Seite ritten seine nächsten Anverwandten in der Armee (Joachim Murat und Eugène de Beauharnais) . Übrigenswar sein Gefolge klein und da, so wie früher und später, bis zur Beresina, hat sein Wert und seine Achtung, trotz allem schon erlittenem und noch zu erwartendem Unglück und Ungemach, nicht gelitten. Mit Bewunderung begegneten ihm die Blicke seiner Truppen, und mit Vertrauen und Hoffnung folgten sie ihm. So hier und später hörte ich von Offizieren verschiedener Nationen sagen: ›Solange Napoleon mit uns ist, sinkt der Mut nicht, wenn uns nur die Kräfte bleiben!‹«
    Wahrscheinlich war die tiefe Verehrung der Soldaten für ihren Kaiser das einzige Band, das die Trümmer des Vielvölkerheeres noch zusammenhielt. Seine ständige Präsenz inmitten der Armee, sein Wille, auch in der Not bei seinen Soldaten zu sein, und seine allgemein bewunderte persönliche Furchtlosigkeit erklären vielleicht die magische Anziehungskraft dieses Mannes. Aber je weiter der Krieg voranschritt, desto gleichgültiger wurde Napoleons Ruhm den Soldaten. Wieder hatte es große Verluste gegeben, 2500 Gefangene und 25 Kanonen mußten zurückgelassen werden. Das Überleben des Marsches schien der größere Kampf zu sein: Wo bekomme ich etwas zu essen? Wo finde ich Kleidung? Wo zur Nacht eine Unterkunft?
    Sergeant François Bourgogne gehörte der Garde an, die stets besser versorgt wurde als alle anderen Truppenteile. Aber auch er mußte inzwischen hungern. Am 6. November kam es zu einem außerordentlichen Temperatursturz. Bei minus 22 Grad umhüllte die Marschierenden »ein so dicker Nebel, daß man die Hand vor den Augen nicht sehen konnte«, schreibt Bourgogne. »Die Lippen froren aufeinander, das Innere der Nase vereiste, und das Gehirn erstarrte. Später trat ein Schneesturm ein, welcher Flocken in einer Größe mit sich führte, wie solche noch keiner je

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