Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
niedergestreckt wurden, und dieser nämliche dann zum dritten Male aus einem erhaschten Versteck in den Wald entlief und wieder eingebracht wurde, da hatte er sich selbsten sein Urteil gesprochen.
Um den übrigen Gefangenen vor ähnlichen Auslässen Scheu einzuprägen, indem ich sonst von ihnen zu befürchten hatte, daß alle mit einem Male zugleich über mein ermattetes und schwaches Detachement herfielen und sich befreiten, wartete ich, da ich gerade in einem Defilee mich befand, einen schicklichen Platz ab, um denselben vor den Augen seiner Kameraden füsilieren zu lassen. Bis ich einen solchen aber würde aufgefunden haben, mußte derselbe gefesselt neben der Kolonne herschreiten.
An einer lichten Stelle im Walde machte ich halt, ordnete die Gefangenen in drei Glieder, postierte um sie her meine Leute und redete ersteren darauf zu Gemüte, wie sie mich zu einem zu gebenden Beispiele forciert, ließ ich den erwähnten Deserteur 30 Schritte vor die Front hinstellen, ihm die Augen verbinden und – nachdem ihn verschiedene seiner Kameraden mit meiner Bewilligung ausgekleidet und einer dessen Kapot (Mantel) , ein anderer die Uniform, ein dritter die Beinkleider und ein vierter die Halbstiefel usw. sich angeeignet – durch drei Soldaten erschießen. Die Fassung des Delinquenten, über dessen Lippen kein Laut noch Klage stieg, sowie daß alle seine Kameraden, sobald er gefallen, durch ihre einmütigen Akklamationen meine Verführungsweise guthießen, wird mir unvergeßlich sein.«
Diese Schilderung zeigt die diffizile Lage, in der sich ein Offizier befand, der einen Gefangenentransport zu eskortieren hatte und der angesichts der großen Zahl seiner Gefangenen auf unbedingter Disziplin bestehen mußte. Gieße betont,sein Vorgesetzter habe ihm vor dem Abmarsch »eine Abschrift des Kaiserlichen Dekrets in Beziehung des Transports der Gefangenen« ausgehändigt. Von den 252 Gefangenen waren 36 geflohen oder erschossen, teils an Entkräftung gestorben. Über das weitere Schicksal der 210 in Dorogobusch abgelieferten Gefangenen vermerkt das Tagebuch Gießes nichts.
Aber nicht nur Kriegsgefangene wurden erschossen. In Moskau hatten die Franzosen, wie berichtet, einige hundert Brandstifter gestellt und sofort hingerichtet, andere verhaftet und mit ihnen buchstäblich »kurzen Prozeß« gemacht; Militärgerichte fällten nach wenigen Minuten durchweg Todesurteile, die augenblicklich vollstreckt wurden. Nun gab es aber eine Anzahl Festgenommener, die nur im Verdacht standen, eventuell Sabotageakte verübt oder sie angestiftet zu haben. Sie wurden beim Abzug aus Moskau mitgenommen; ihre Schuld oder Unschuld sollte in Smolensk untersucht werden. Doch dazu kam es nicht. Betroffen notiert Leutnant von Kurz: »Längs der Straße erkannte man noch deutlich mehrere Hunderte Bewohner Moskaus, die, des Brandlegens verdächtig, nach Smolensk geführt werden sollten, unterwegs aber meist von ihren grausamen Begleitern vor den Kopf geschossen wurden, wenn sie, fast aller Nahrung entbehrend, vor Kraftlosigkeit niedergesunken waren und sich nicht mehr aufzuraffen vermochten.«
Unsere Erinnerung lebt von bewahrten Sinneseindrücken. Mehr als Auge und Ohr ist es bei den zwischen Moskau und Smolensk ziehenden Soldaten »die Nase, die eine Welt von infernalischen Gerüchen aufnehmen« mußte. Nicht nur auf dem Schlachtfeld von Borodino lagen die Leichen und Pferdekadaver zuhauf; dieser durchdringende Verwesungsgeruch war der stete Begleiter auch auf der großen Heerstraße, denn niemand hatte tote Menschen und Pferde begraben. Hinzu kamen die unsäglichen Ausdünstungen in den Lazaretten, wo Verwundete auf Stroh lagen, das von ihren Ausscheidungengetränkt war, in Räumen, in denen es nach Eiter und faulendem, von Wundbrand befallenem Fleisch roch und dem Kot der an Ruhr, Typhus und Cholera Erkrankten, um die sich niemand kümmerte. Vielfach hatte sich das Sanitätspersonal längst davongemacht, nicht ohne vorher die ihnen Anvertrauten gründlich gefilzt zu haben. Die Tagebücher berichten auch von korrupten Ärzten, die ein kleines Vermögen beiseitegeschafft hatten. Über den abgefackelten Städten lag ein durchdringender Brandgeruch. Schon bald würde eine dichte Schneedecke alles verhüllen und der Frost die Verwesung einfrieren.
Denn nun wurde es kalt. Das bis Mitte Oktober währende warme und heiter durchsonnte Herbstwetter, für russische Verhältnisse ganz ungewohnt, war vorbei. Schon in Moskau hatte es immer wieder Tage mit kaltem
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